Foto: Kyle Mackie / Unsplash

Das Potential zum Gamechanger

Über die Chancen von kultiviertem Fleisch auf dem deutschen Markt

Für Prof. Dr. Nick Lin-Hi steht außer Frage, dass es soweit kommt: „Kultiviertes Fleisch wird konventionelles Fleisch langfristig zu einem guten Teil ersetzen“, ist der Professor für Wirtschaft und Ethik überzeugt. Er forscht an der Universität Vechta, im Zentrum der deutschen Fleischindustrie, und ist für sie der sprichwörtliche Stachel im Fleisch. Wenn eine Sprunginnovation dem alten Produkt überlegen ist, wird dieses verschwinden. „Die Kutsche ist weg, das Grammophon, der CD-Player, komplett abgelöst durch Autos und digitale Medien.“ Und Fleisch, für das kein Tier sterben, kein Futter angebaut werden muss, sei konventionellem Fleisch eben aus vielen Gründen überlegen.

„Erst wird es belächelt und nicht ernstgenommen. Dann dreht sich der Markt und es ist für die deutsche Industrie nur schwer möglich, mit der rasanten Entwicklung noch Schritt zu halten.“

Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta

Doch bevor das im Labor gezüchtete Fleisch echte Steaks aus den Supermärkten verdrängt, muss es erst einmal von den Behörden zugelassen und in Masse produziert werden. Hier setzt Lin-His Kritik an: Deutschland ist auf diesen Innovationssprung nicht vorbereitet. Er vergleicht das Ignorieren der In-vitro-Fleisch-Entwicklung mit der deutschen Einstellung gegenüber Teslas E-Autos. „Erst wird es belächelt und nicht ernstgenommen. Dann dreht sich der Markt und es ist für die deutsche Industrie nur schwer möglich, mit der rasanten Entwicklung noch Schritt zu halten.“

Kein einziges Unternehmen hat bisher überhaupt einen Zulassungsantrag bei der zuständigen EU-Behörde gestellt. Nicht deren Desinteresse, sondern die EU-Bürokratie und das innovationsfeindliche Umfeld seien daran schuld  Es gebe noch nicht einmal einen normierten Zulassungsprozess. So würden neuen Technologien Steine in den Weg gelegt, sagt Lin-Hi.

„Auch deshalb haben wir in Deutschland kein Unternehmen im Bereich In-vitro-Fleisch, das in der Champions League spielt.“ Wer Ambitionen hat, setzt diese in Ländern mit wirtschaftsfreundlicheren Bedingungen um. Die Rügenwalder Mühle, bereits mit ihren vegetarischen Fleischersatz-Produkten sehr erfolgreich, ist im Bereich kultiviertes Fleisch eine Kooperation mit einem kleinen Schweizer Unternehmen eingegangen. Nestlé will Beteiligungen prüfen. Das Geflügelfleischunternehmen PHW, besser bekannt als Wiesenhof, beteiligte sich bereits 2018 am israelischen Start-up Supermeat. Derzeit kommen die Innovationen auf dem Gebiet des kultivierten Fleisches von kleinen Start-ups. Große Konzerne oder auch private Investoren, die auch das Tierwohl treibt, wie Leonardo die Caprio und der britische Milliardär Richard Branson, investieren große Summen in die Zukunftsvision.

„Das Thema steht in Deutschland nicht wirklich auf der Agenda.“

Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta

Es ist ein wachsender Markt, in dem Goldgräberstimmung herrscht: Das Good Food Institute spricht von weltweit 156 Unternehmen, die sich bis Ende 2022 rund um die Produktion von kultiviertem Fleisch gegründet hatten. Eines der größten ist Mosa Meat in Maastricht. Dort steht der nach Angaben des Unternehmens weltweit größte Campus für In-vitro-Fleisch. Ein zentrales Thema der Branche ist die Entwicklung pflanzlicher Wachstumsmedien. Wenn diese das derzeit verwendete Kälberserum ablösen könnten, wäre dies ein riesiger Schritt sowohl im Hinblick auf das Tierwohl als auch auf die Kosten. 

Die Forschung braucht mehr öffentliche Gelder, die Start-ups ein innovationsfreundlicheres Umfeld, sagt Lin-Hi. Doch: „Das Thema steht in Deutschland nicht wirklich auf der Agenda.“ Wie verändern sich die Märkte und die Stoffströme? Was kann Deutschlands Rolle sein? Auf diese Fragen gebe es keine Antwort. Für die deutsche Landwirtschaft eröffne sich zum Beispiel wegen des Bedarfs an pflanzlichen Nährmedien ein neuer Markt: Futtermittel für Zellen statt für Tiere. „Wenn wir nicht schnellstmöglich die Landwirtschaft umsteuern, gefährden wir deren Zukunft“, sagt Lin-Hi.

„Die Altersgruppe unter 34 Jahren verzehrt nur rund zwei Drittel soviel Fleisch wie der Durchschnitt. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Personen ihren Fleischkonsum wieder erhöhen werden.“

Dr. Claus Deblitz, Agrarökonom am Johann Heinrich von Thünen-Institut

Die hat auch schon ohne marktreifes kultiviertes Fleisch mit heftigen Problemen zu kämpfen. Laut dem Statistischen Bundesamt ging die Fleischproduktion hierzulande zwischen 2017 und 2022 um 13,9 Prozent zurück. Dafür gibt es laut Dr. Claus Deblitz, Agrarökonom am Thünen-Institut für Betriebswirtschaft, ein ganzes Bündel an Gründen: unter ihnen Einfuhrbeschränkungen nach China wegen der Schweinepest, fehlende Absatzmärkte während der Pandemie sowie gestiegene gesetzliche Tierwohl- und Umweltanforderungen und Unsicherheiten hinsichtlich der damit verbundenen Förderungen. Auch die wachsende Gruppe von Vegetarier*innen und Veganer*innen und sich generell wandelnde Ernährungsgewohnheiten senken die Nachfrage nach Steak und Wurst. „Die Altersgruppe unter 34 Jahren verzehrt nur rund zwei Drittel soviel Fleisch wie der Durchschnitt. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Personen ihren Fleischkonsum wieder erhöhen werden“, sagt der Wissenschaftler.  

Das Thünen-Institut hat ein Szenario erstellt, wie sich die deutsche Landwirtschaft  unter definierten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bis zum Jahr 2032 entwickeln wird. Auch die Auswirkungen des sinkenden Fleischkonsums werden dort berechnet. Wenn die Thünen-Forscher*innen Recht behalten, stehen den Betrieben mit Schweinehaltung und Rindermast harte Zeiten bevor. Die Autor*innen gehen davon aus, dass die Nachfrage nach Rindfleisch um 9,2 Prozent und nach Schweinfleisch sogar um 17,5 Prozent sinken wird. Für den Konsum von Hähnchenfleisch prognostiziert die Studie bis 2023 hingegen einen Anstieg um gut zehn Prozent. 

Die Folgen sind gravierend: Mit der Nachfrage sinken Produktion und Produzentenpreise für Fleisch in Deutschland, die Einkommensrückgänge zwingen weitere Unternehmen zur Schließung. „Von den Stallbauern über die landwirtschaftlichen Betriebe, die Futtermittelindustrie, die pharmazeutische Industrie bis zu den Schlachthöfen werden die Auswirkungen spürbar sein“, sagt Claus Deblitz, Mitautor der Studie. Für die Mastbetriebe rechnet diese im Schnitt mit Einkommensrückgängen von bis zu 33 Prozent. Die ersten Schlachthöfe haben bereits ihre Tore geschlossen. Am stärksten werden die nördlichen und nordwestlichen Regionen Deutschlands unter dem Strukturwandel leiden: Dort ballen sich Betriebe für Schweineproduktion und Rindermast sowie die Schlachthofindustrie. 

Doch es gibt auch Gewinner: Statt Fleisch kommen Sojaburger und Gemüse auf den Teller. Der Umsatz mit Fleischersatzprodukten boomt. Das Unternehmen Rügenwalder Mühle machte 2021 erstmals mehr Umsatz mit vegetarischen und veganen als mit Fleischprodukten. Mehr als ein Drittel der 18 bis 34-Jährigen gibt in einer Umfrage an, Fleischkonsum nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren zu können. Die Zeit für sogenannte Foodinnovationen ist gut, die Konsument*innen sind offen für Alternativen zum konventionellen Fleisch.

Das Statistische Bundesamt kann den Trend mit Zahlen unterlegen: zwischen 2019 und 2021 erhöhte sich die deutsche Produktion von Veggie-Burgern und Co. um 62 Prozent. Dennoch: Sie lag bei nur 1,25 Prozent des Wertes der konventionellen Fleischproduktion im Umfang von 35,6 Milliarden Euro. Fleisch ist weiter beliebt und es ist wahrscheinlich, dass kultiviertes Fleisch auf Interesse stoßen wird. Marktkenner glauben, dass sich der Markt in Zukunft in je ein Drittel konventionelles Fleisch, pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte und Fleisch aus dem Bioreaktor aufteilen könnte. „Die tierische Produktion wird sinken. Konventionelles Fleisch wird teurer und höherwertiger werden. Aber es wird nicht verschwinden“, sagt Deblitz.

„Ich glaube nicht, dass es so schnell und disruptiv passiert, wie manche prognostizieren.“

Dr. Claus Deblitz, Agrarökonom am Johann Heinrich von Thünen-Institut

Die Industrie steht in den Startlöchern, um im künftigen Markt des kultivierten Fleisches eine Rolle zu spielen. Rund um die Bioreaktoren wird sich eine neue Industrie entwickeln: Statt Stall- braucht man dann Anlagebauern, statt Tierfutterproduzenten jene, die Nährflüssigkeiten herstellen. Auch Labor- und Analysematerialen werden vom Boom des In-vitro-Fleisches profitieren. Ob es sich durchsetzt, wird voraussichtlich eher der Preis entscheiden und weniger ethische Fragen. Darin sind sich Claus Deblitz und Nick Lin-Hi einig. Claus Deblitz sieht jedenfalls das Potential, dass es zum „gamechanger“ der Branche wird, sollte das Wachstumssubstrat nicht mehr aus Kälberserum, sondern aus pflanzlichen Alternativen gewonnen werden.

Noch ist dies Zukunftsmusik. „Ich glaube nicht, dass es so schnell und disruptiv passiert, wie manche prognostizieren“, sagt Claus Deblitz. Aber je früher sich alle auf den Wandel einstellen, desto besser.

Mehr zu dem Thema