Foto: Arne Sattler/MPI für Bildungsforschung

„Nudging lenkt von den eigentlichen Problemen ab”

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gerd Gigerenzer

Prof. Gigerenzer, Sie gelten als einer der profiliertesten Nudging-Kritiker in Deutschland. Was empört Sie so sehr an diesem Konzept? 

Nudging ist nichts Neues. Werbung und Regierungen haben schon immer versucht, unser Verhalten zu beeinflussen, am liebsten so, dass wir es gar nicht bemerken. Nudging ist eine Form von staatlichem Paternalismus: Man unterstellt, Menschen seien eher unfähig, gute Entscheidungen selbst zu treffen und auch kaum in der Lage, dies durch Erfahrung zu lernen. Also muss der Staat eingreifen und Menschen wie Schafe lenken. Das ist nicht das Bild, das ich von Menschen in einer Demokratie habe. Im 21. Jahrhundert brauchen wir weniger Nudging und mehr mündige Bürger*innen.

Wie sieht Ihr Menschenbild aus?

Ich bin überzeugt davon, dass Menschen aus Fehlern lernen können und wir alles daransetzen sollten, damit so viele wie möglich selbstbestimmt und informiert Entscheidungen treffen können. Dem Nudging-Konzept liegt eine gänzlich andere Idee zugrunde. Die beste Definition stammt von Riccardo Rebonato, der Nudging als eine Methode beschreibt, bei der man eine Schwäche („Bias“) von Menschen ausnutzt, um sie dahin zu führen, wo man sie haben möchte. Oder: Wo sie laut Nudging-Befürworter*innen sein möchten, aber das selbst nicht immer wissen.

„Wer bestimmt, was das Beste für Sie ist? Das sind die Personen, die sich des Nudging bedienen, nicht Sie.“

Kann man Nudging-Befürworter*innen zumindest zugutehalten, dass sie tatsächlich das Beste wollen für die Menschen?

Wer bestimmt, was das Beste für Sie ist? Das sind die Personen, die sich des Nudging bedienen, nicht Sie.   

Es lässt sich nicht leugnen, dass es – ich behaupte mal „objektiv“ – Menschen gibt, die nicht jeden Tag die besten Entscheidungen für sich treffen…

Man muss sich überlegen, warum das so ist. Vor zweihundert Jahren wurde argumentiert: Die meisten Menschen werden nie lesen und schreiben lernen können. Also muss die Obrigkeit sie lenken. Dann wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt und – oh Wunder – die Menschen konnten plötzlich lesen und schreiben. Heute wird argumentiert, dass die meisten Menschen nicht lernen können, mit Risiken umzugehen. Wenn wir heute in den Schulen und Universitäten allen den kompetenten Umgang mit Risiken und statistisches Denken beibringen würden, bräuchten wir die Menschen nicht zu nudgen. Die Frage ist: Was müssen Menschen wissen, um gute Entscheidungen zu treffen? Wie können wir die Bürger*innen stärker machen? Wir nennen das Boosting. Darüber sollten wir uns Gedanken machen, nicht über Möglichkeiten, Menschen auf schlaue Art und Weise zu lenken.

Es gibt gesellschaftliche Probleme, da muss sich kurzfristig etwas verändern.

Das ist völlig richtig. Die Frage ist: Warum haben wir diese Probleme? Nudging lenkt von den eigentlichen Problemen ab, die moderne Industrienationen haben.

„Die Nudge-Philosophie sucht die Ursachen von Übel allein im Individuum, bei den Menschen, nicht in deren Umfeld.“

Das müssen Sie erklären.

Die Nudge-Philosophie sucht die Ursachen von Übel allein im Individuum, bei den Menschen, nicht in deren Umfeld. In diesem Sinne hat in Großbritannien vor Jahren das House of Lords die Regierung des vormaligen britischen Regierungschefs David Cameron kritisiert, Nudging als Ausrede für mangelnden Verbraucherschutz zu benutzen. Anstatt etwa mit Gesetzen gegen die Werbung der Industrie für ungesundes Essen mit zu viel Zucker, Salz oder Fett vorzugehen, habe man auf Nudges gesetzt. Also: Nichtstun anstelle von dringend notwendiger staatlicher Regulierung. 

Was ist aus Ihrer Sicht ein typischer Nudge?

Ein klassisches Beispiel sind die Einladungen zum Mammografiescreening, wie sie früher in Deutschland jedes Jahr an Frauen ab 50 versandt wurden. Darin hieß es, dass sich die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu sterben, um 20 bis 30 Prozent vermindert, wenn man die Früherkennung in Anspruch nehme.

Das klingt erstmal nach einer sachlichen Information.

Es ist ein Nudge, der davon ausgeht, dass Frauen den Unterschied zwischen relativen und absoluten Risiken nicht kennen. Tatsächlich zeigte die Statistik: Wenn 1000 Frauen nicht zum Screening gehen, dann sterben nach 10 Jahren etwa fünf Frauen an Brustkrebs. Gehen hingegen 1000 Frauen zum Screening, sterben vier von Tausend an Brustkrebs. Der Nudge besteht darin, dass man nicht von einer Senkung der Todesfälle von fünf auf vier in Tausend spricht, sondern von einer Senkung um zwanzig Prozent – was auf den ersten Blick ungleich dramatischer klingt. Und noch besser, wenn man es dann noch auf 30 Prozent aufrundet.

„Das Ziel des Nudging war nicht, Frauen eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, sondern die Teilnahmeraten am Screening zu erhöhen.“

Sie haben damals interveniert…

Ja, unsere Forschung am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat dazu beigetragen, dass dieses Nudging gestoppt wurde. Heute werden in Deutschland verständliche Einladungen versandt, anders als etwa vielerorts in den USA. Das Ziel des Nudging war nicht, Frauen eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, sondern die Teilnahmeraten am Screening zu erhöhen. Statt ihnen in transparenter Art und Weise die Evidenz zu erklären, einschließlich des möglichen Schadens, verdrehte man die Evidenz und nutzte das Problem aus, dass viele Menschen nie gelernt haben, statistisch zu denken und den Unterschied zwischen dem relativen Risiko (20 Prozent weniger) und einem absoluten Risiko ( 1 in 1000 weniger) womöglich nicht kennen. 

Wie ginge es besser? Tatsächlich haben ja viele Menschen dieses Wissen nicht.

Aber wir könnten es lernen! Wir haben in unserer Forschung immer wieder gezeigt, dass man schon Viertklässler*innen statistisches Denken und Risikokompetenz lehren kann. Boosting statt Nudging. Mitdenkende statt manipulierte Bürger*innen. Das ist eine Frage des politischen Willens.

Welche langfristigen Auswirkungen auf die Eigenverantwortungs- und Urteilsfähigkeit von Menschen sehen Sie, wenn Nudging zunehmend praktiziert wird?

Die langfristige Auswirkung wäre, dass Menschen nicht mehr die Kompetenz haben, informierte Entscheidungen zu treffen. Es gäbe mehr Verschwörungstheorien. Wir würden mehr Menschen begegnen, die emotional auf die Straße gehen, oder online posten, ohne genau zu wissen, wogegen sie protestieren. Kurz gesagt: Wir würden uns vom Zeitalter der Aufklärung entfernen.

„Nudging ist nichts Neues, aber die digitale Welt gibt der Manipulation eine größere Plattform. Und das kann ein ernsthaftes Problem für unsere Demokratie werden.“

Die Digitalisierung dürfte Nudges zu größerer Verbreitung verhelfen.

Die Kombination von Big Data und Nudging heißt Big Nudging. Der Cambridge Analytica Skandal, bei dem Facebook-Daten zur Beeinflussung von Wählern eingesetzt wurden, hat uns einen Vorgeschmack gegeben. Nudging ist, wie gesagt, nichts Neues, aber die digitale Welt gibt der Manipulation eine größere Plattform. Und das kann ein ernsthaftes Problem für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie werden. Nudging ist im Kern antiaufklärerisch. In unserer Zeit der schnellen technologischen Entwicklung sollten wir in Menschen investieren und sie risikokompetent machen und nicht versuchen, sie zu manipulieren.

Zur Person

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. 

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