„Alle modernen Produkte müssen als Dienstleistung betrachtet werden.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Michael Braungart

Sie haben gemeinsam mit Kollegen ein Konzept entworfen, dass Sie „Cradle to Cradle“ nennen. Zu Deutsch: Von der Wiege zur Wiege. Was hat es damit auf sich?

Der Grundgedanke ist, dass alle Dinge, die genutzt werden, als biologische oder technische Nährstoffe betrachtet werden, die in Kreisläufen zirkulieren. Dabei geht es aber nicht um „null Abfälle“, denn die Natur kennt gar keine Abfälle, alles ist Nährstoff. Kein anderes Lebewesen macht Müll. Die Natur ist reversibel in dem, was sie tut, für irreversible Zerstörung sind einzig wir Menschen verantwortlich. Dabei könnten wir doch genauso intelligent sein wie andere Lebewesen. Die Biomasse von Ameisen ist zum Beispiel höher als die der Menschen und sie sind kein Umweltproblem, weil sie eben alle Nährstoffe an die Natur zurückgeben.

Cradle to Cradle zelebriert quasi den menschlichen Fußabdruck, es sieht den Menschen als Chance und nicht als Belastung. Es geht nicht darum, klimaneutral zu sein, sondern gut zu sein fürs Klima. Es geht nicht mehr darum, die Umwelt vor uns zu schützen, sondern darum, gute Produkte herzustellen.

„An sich ist Plastik ein wunderbarer Werkstoff für ganz viele Anwendungen.“

Wie gestaltet sich das in der Praxis?

Wir müssen alles noch einmal neu erfinden. Nicht mit Langlebigkeit, sondern mit definierter Nutzungszeit. Alle modernen Produkte müssen als Dienstleistung betrachtet werden. Der Hersteller verkauft dann nicht mehr ein Gerät, sondern nur die Nutzung davon. Jedes Gerät hat abhängig von der Konzeption eine definierte Nutzungszeit. Sie kaufen beispielsweise keinen Laptop mehr, sondern eine Laptop-Versicherung. Darin ist nicht nur die Nutzung enthalten, sondern auch die Wartung und die Reparatur. Der Hersteller behält die Materialien, die er immer wieder verwenden kann. So wird er auch die besten Materialien einsetzen und nicht das vermeintlich billigste.

Ein Produkt, das Abfall produziert, ist ein Qualitätsproblem. Alles, was verschleißt oder doch als Einwegprodukt benutzt werden muss, muss so gemacht sein, dass es in die Biosphäre zurückgehen kann. Dafür brauchen wir perfekt biologisch abbaubare Materialien. Das gilt zum Beispiel für Schuhsohlen oder Bremsbeläge.

Wie müssten wir dann mit Plastik umgehen?

Das Plastik muss genauso wie alle anderen Materialien entweder als abbaubares Produkt in die Biosphäre gehen können oder als Dienstleistung gesehen werden. An sich ist Plastik ja ein wunderbarer Werkstoff für ganz viele Anwendungen. Wichtig ist jedoch, dass giftige Chemikalien, wie Weichmacher, nicht mehr bei der Produktion eingesetzt werden. In dem Kunststoff Polypropylen zum Beispiel werden 900 verschiedene Zusatzstoffe eingesetzt. Jede Firma mischt etwas Anderes hinein, weil es gut für bestimmte Verpackungen funktioniert. Insgesamt wird der Stoff dadurch jedoch minderwertig und lässt sich nicht gut verwerten.

Man könnte auch Plastikverpackung als Dienstleistung anbieten, indem man ein Pfandsystem dafür einführt. Die Verpackung könnte man aus einem Monokunststoff herstellen, wie beispielsweise PET. Wenn man es richtig herstellt und einsetzt, kann man es bis zu 30 Mal wiederverwenden. Wenn es verschlissen ist, kann man es immer noch biologisch abbaubar machen und dann zum Beispiel für landwirtschaftliche Folien einsetzen.

Es gibt auch Kunststoffe, wie die Polysulfone von BASF, die völlig formstabil sind. Ich habe sie getestet und 600 Mal eingeschmolzen und sie waren immer noch stabil. Das bedeutet, dass wir einen Schreibtischstuhl aus Polysulfonen die nächsten 10.000 Jahre haben könnten. Die Kunststoffe können für denselben Zweck für immer eingesetzt werden. Übrigens gilt das Gleiche für Metalle von zum Beispiel Autos oder Handys. Das Denken ist hier aber noch ganz am Anfang und nur die wenigsten der zumeist seltenen Metalle werden zurückgewonnen.

„Was uns nützt, ist die junge Selfie-Generation.“

Ist die Gesellschaft bereit für Cradle to Cradle?

Die Materialien zu ändern ist tatsächlich nur die Schlussfolgerung, zuerst muss man das Denken ändern. In Deutschland hat sich in Sachen Umweltschutz in den letzten Jahren wenig getan. Cradle to Cradle kommt hier erst jetzt an, ist aber in Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder Frankreich schon länger populär. Es gibt jedoch mittlerweile sogar einen Cradle to Cradle-Verein in Deutschland.

Was dem Prinzip hilft, ist die Digitalisierung, mit der wir das Produkt kontrollieren können. Da es digital erfasst wird, ist der Verbleib der Komponenten und Materialien klar. Was heute ein Fernseher ist, ist morgen eine Waschmaschine und übermorgen ein Autoteil. Außerdem gibt es für jedes Produkt eine sinnvolle Nutzungszeit. Im Gegensatz zu langlebigen Produkten, die 40 Jahre halten sollen, kann so auch Innovation auf den Markt kommen. Wir wollen das Beste für die Gesellschaft und die Wirtschaft.

Was ist Ihre Prognose für die Zukunft? Wird sich Cradle to Cradle auf der Welt etablieren können?

Ich gehe davon aus, dass die Welt bis 2040 nach Cradle to Cradle organisiert sein wird. Wissenschaftlich veröffentlicht haben wir das Konzept vor 30 Jahren. Wenn man bedenkt, dass zwischen der Erfindung des Internets und der tatsächlichen breiten Verfügbarkeit über 60 Jahre vergangen sind, sind wir gut im Zeitplan. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht.

Es gibt inzwischen schon viele Cradle to Cradle-Produkte auf der Welt: Waschmaschinen, mit denen man nur noch 3000 Waschgänge kauft und Teppiche, die nicht nur unschädlich sind, sondern auch noch die Raumluft reinigen. In Taiwan gibt es sogar einen Masterplan für eine Strategie, wie die ganze Insel nach Cradle to Cradle funktionieren soll.

Was uns nützt, ist die junge Selfie-Generation, die auf sich stolz sein möchte. Man braucht keine Moral mehr, ein gesundes Selbstwertgefühl reicht völlig aus. Jede Design-Schule, die etwas auf sich hält, lehrt inzwischen Cradle to Cradle. Und mit der Digitalisierung wird das Nährstoffmanagement jetzt wunderbar klappen und zwar so schnell, wie die Menschen sich das gar nicht vorstellen können.

Zur Person

Der Chemiker Prof. Dr. Michael Braungart ist Gründer der EPEA Internationale Umweltforschung GmbH in Hamburg. Er hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, unter anderem ist er Professor für Ökodesign am Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der Leuphana Universität in Lüneburg.

Mehr zu dem Thema