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„Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist keine Tragödie.“

Ein Gespräch mit Diplom-Psychologe Dr. Christopher Kofahl

In Ihrer Studie haben Sie sich damit beschäftigt, wie sich Pflege und Beruf für Eltern eines pflegebedürftigen Kindes vereinbaren lassen. Wie genau haben Sie das untersucht? 

Es ist notwendig, mit den Betroffenen selbst zu sprechen. Daher haben wir die Studie partizipativ gestaltet. Die Fragen resultieren also aus einer gemeinschaftlichen Entwicklung mit betroffenen Eltern. Für die Abfrage haben wir den Fragebogen über Verteilersysteme der Selbsthilfeverbände, der sozialpädiatrischen Zentren, Pflegestützpunkte und viele mehr verbreitet, damit er die betroffenen Familien auch erreicht.

Eine große Herausforderung bei einer solchen Befragung ist natürlich, dass jede familiäre Situation einzigartig ist. Daher ist es wichtig, die Möglichkeit der freien Formulierung zu lassen, um individuelle Bedürfnisse darzulegen. Viele haben diese Möglichkeit genutzt und man hat gemerkt, dass viele der Familien extrem belastet sind und sie sich allein gelassen fühlen.

„Grundsätzlich existiert zwar ein Rechtsanspruch auf externe Unterstützung und professionelle Pflege, aber in der Realität ist das aufgrund fehlender Angebote vor Ort, aber auch fehlender Pflegekräfte oft nicht umsetzbar.“

Wie zeigt sich diese Belastung konkret im Alltag der Familien?  

Das hängt von den individuellen Versorgungsbedarfen und dem Behinderungsgrad des Kindes ab. Teilweise bedeutet die Behinderung eine Vollzeitbetreuung durch die Eltern. Grundsätzlich existiert zwar ein Rechtsanspruch auf externe Unterstützung und professionelle Pflege, aber in der Realität ist das aufgrund fehlender Angebote vor Ort, aber auch fehlender Pflegekräfte oft nicht umsetzbar. Insbesondere in ländlichen Regionen ist das ein Problem. Eltern müssen daher als Laien oftmals eine professionelle Pflege übernehmen, was einerseits kräftezehrend ist und andererseits mit wirtschaftlichen Belastungen einhergeht, weil die Eltern der Erwerbstätigkeit nicht mehr vollständig nachgehen können. 

Sie sprachen vom Aufgeben der Erwerbstätigkeit der Eltern. Wen betrifft das vor allem?

In weit über 90 Prozent der Fälle sind es die Mütter, die das Kind pflegen. Viele arbeiten dann in Teilzeit oder geben ihren ursprünglichen Beruf sogar vollständig auf. Viele Mütter wünschen sich in diesem Fall vor allem eines: Flexibilität – in der Einteilung der Arbeitszeit, um sie nach den Bedarfen des Kindes zu richten oder die Möglichkeit, ohne schlechtes Gewissen nicht auf der Arbeit zu erscheinen oder diese früher verlassen zu können.

Wird das von Arbeitgeberseite oftmals ermöglicht? 

Das ist sehr unterschiedlich. Der Rückmeldung nach, die wir innerhalb der Studie bekommen haben, haben die meisten Arbeitgeber Verständnis für die Situation. Aber es hängt natürlich auch von der Form der Arbeit ab, in welchem Rahmen Flexibilität möglich ist, zum Beispiel in Form von Home-Office. Wenn der Job das Arbeiten von zuhause nicht zulässt, dann bleibt häufig nur das Aufgeben des Berufs. Wir hatten in unserer Untersuchung viele hochqualifizierte Mütter mit Hochschulabschluss, die ihre Karriere nicht weiterverfolgen konnten und einer Arbeit nachgingen, die keine oder nur geringe Qualifikation voraussetzt, aber mit der Pflege des Kindes besser vereinbar war.

„Eine langfristige Reduzierung der Arbeit beläuft sich auf maximal zwei Jahre, was den Eltern von pflegebedürftigen Kindern kaum etwas nützt, da der Großteil der Kinder ein Leben lang pflegebedürftig sein wird.“

Wie können Familien mit pflegebedürftigen Kindern darüber hinaus entlastet werden?

Die Hilfsangebote müssen an die individuellen Bedürfnisse jeder Familie angepasst werden. Es gibt durchaus eine Vielfalt von Unterstützungsangeboten, von denen aber nicht alle gleichsam nutzbar sind. Zudem sind vielen Eltern die Angebote gar nicht bekannt. Die Leistungen, die in Anspruch genommen wurden, werden als mehr oder weniger hilfreich beurteilt, wie unsere Untersuchung gezeigt hat. Zum Beispiel haben die Eltern durch das Pflegezeitgesetz ein Recht auf die Freistellung von der Arbeit bis zu einem halben Jahr. Der Rechtsanspruch besteht aber erst ab einer Betriebsgröße von mehr als 15 Mitarbeitenden und wenn die betrieblichen Belange dies zulassen. Das Familienpflegezeitgesetz ermöglicht den Eltern bis zu zwei Jahre einer reduzierten Teilzeit von 15 Stunden pro Woche nachzukommen. Hier ist die Voraussetzung eine Betriebsgröße von mindestens 25 Mitarbeitenden. Eine langfristige Reduzierung der Arbeit beläuft sich also auf maximal zwei Jahre, was den Eltern von pflegebedürftigen Kindern kaum etwas nützt, da der Großteil der Kinder ein Leben lang pflegebedürftig sein wird. Dementsprechend werden diese Möglichkeiten von weniger als drei Prozent der Eltern genutzt.

Was hilft den Betroffenen ganz besonders?

Hinsichtlich der verschiedensten Beratungsangebote ist es spannend zu beobachten, dass viele Familien den Austausch mit anderen Betroffenen und die sogenannte Peer-Beratung hilfreicher finden als das professionelle Beratungsangebot. Der Austausch untereinander findet sogar laut den Ergebnissen der Umfrage sehr häufig statt und wird als sehr sinnvoll empfunden. Ein wesentlicher Grund ist, dass die Betroffenen sich über Jahre hinweg viel Wissen in allen möglichen Bereichen angeeignet haben und sich dieses untereinander weitergeben. Auch in diesem Zusammenhang ist eine zentrale Empfehlung aus unserer Expertise der Ausbau einzelner Beratungsstellen der sogenannten Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung für Kinder (EUTBs), in denen alle Kompetenzen zum Thema Behinderung und Pflegebedürftigkeit zusammenfließen, einschließlich der Peer-Beratung. Das brauchen gar nicht so viele zu sein. Je nach Bundesland vielleicht ein bis vier. Besser konzentrierte hohe Qualität als in die Fläche verteiltes Mittelmaß.

„Alleinerziehende sind als Pflegende unglaublich stark belastet, wenn sie ihrer ursprünglichen Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können, das Einkommen wegfällt und auch finanzielle Unterstützung seitens des Staates nicht ausreichend gewährleistet ist.“

Das Familienleben mit einem pflegebedürftigen Kind hat nicht nur Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit. Wie lassen sich die Beziehungsstrukturen innerhalb dieser Familie, zum Beispiel zwischen den Eltern, beschreiben?

Ich kenne dazu keine konkreten Zahlen, aber es ist schon deutlich zu beobachten, dass Trennungen der Eltern häufiger sind als in Familien mit gesundheitlich weniger belasteten Kindern. Meist bleibt die Mutter allein mit dem Kind oder weiteren Kindern zurück. Die Pflege und Betreuung eines Kindes ist ohne weitere Unterstützung sehr zeitintensiv und auch belastend für die Eltern. Bei Paaren, die nicht gut miteinander kommunizieren, kann dies schnell zu Streitigkeiten und zur Trennung führen. Alleinerziehende sind dann als Pflegende unglaublich stark belastet, wenn sie ihrer ursprünglichen Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können, das Einkommen wegfällt und auch finanzielle Unterstützung seitens des Staats nicht ausreichend gewährleistet ist. 

Wie sieht es mit den Auswirkungen auf die Geschwisterkinder ohne Behinderung aus? 

Obwohl wir sehen, dass Eltern und Familien das vermeiden wollen, werden Geschwisterkinder oft früher oder später dennoch in die Pflege mit eingebunden – das passiert durch ganz natürliche Familiendynamiken. Da die Geschwisterkinder ihren eigenen Interessen weniger nachgehen können, kann es dazu führen, dass sie sich benachteiligt fühlen. Umgekehrt ist es jedoch auch so, dass die auf Hilfe angewiesenen Kinder natürlich auch ein schlechtes Gewissen entwickeln können, permanent auf die Pflege der Familie angewiesen zu sein. Und gleichzeitig sehen wir sehr deutlich, dass Geschwisterkinder ein stark ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, Toleranz und Sensibilität gegenüber Menschen mit Behinderungen entwickeln.

„Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist keine Tragödie.“

Wie bewerten Sie die öffentliche Debatte zum Thema Leben mit Behinderung und Familien mit Behinderung? Gibt es Aspekte, die Ihnen zu kurz kommen.

Ehrlicherweise gibt es diese Debatte nur in der Fach- und Betroffenenöffentlichkeit. Daher würde ich mir wünschen, dass dieses Thema auch stärker in der breiten Öffentlichkeit vertreten ist. Wir sind durch die Bekennung zur UN-Behindertenrechtskonvention auf einem richtigen Weg. Die Ziele, die diese Behindertenrechtskonvention setzt, sind konsequent und durchaus auch radikal. In der Umsetzung zu einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft stoßen wir sicherlich an viele Grenzen. Trotzdem ist sie notwendig.

Darüber hinaus wünsche ich mir eine Plattform, auf der Eltern alle notwendigen Informationen gebündelt finden, die ihnen aufzeigt, welche Hilfs- und Rechtsansprüche ihnen zustehen und wo sie sich gezielt weiter beraten lassen und mit anderen Betroffenen austauschen können. 

Aber vor allem ist es wichtig in der Debatte zu betonen, dass nicht das individuelle Kind die Belastung für die Familien darstellt. Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist keine Tragödie. Der Zusammenhalt in betroffenen Familien ist häufig sehr hoch und die Lebensqualität ist trotzdem gegeben. Es sind vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie mangelnde Unterstützung oder der Pflegenotstand, der diese Familien in ihrem Leben behindert und belastet.

 

Zur Person

Dr. Christopher Kofahl ist stellvertretender Institutsdirektor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hat gemeinsam mit dem Kindernetzwerk e. V. im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Studie zum Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Eltern mit einem pflegebedürftigen Kind durchgeführt.

Foto: Christopher Kofahl

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