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„Wie man mit Ängsten umgeht, wie sie entstehen und wie man sie kommuniziert ist gesellschaftsspezifisch.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Hansjörg Dilger

Herr Dilger, wie entsteht Angst in Zeiten von Epidemien?

Das hat einerseits viel mit der Ungewissheit zu tun, die mit dem Ausbruch unbekannter epidemischer Krankheiten generell in Zusammenhang steht. Man weiß anfangs nicht viel über die neue Erkrankung – darüber wie man sich ansteckt und wie genau sie sich verbreitet. Diese Ungewissheit kann zu Angst führen.

Gleichzeitig ist es im Fall von Corona aber aus der Perspektive in Deutschland auch so, dass die Krankheit zunächst geographisch sehr weit entfernt und damit nicht greifbar war. Es gab zwar seit einigen Jahren schon Warnungen vor globalen Pandemien, aber zuletzt sind Krankheiten wie Ebola oder SARS immer in den Grenzen des globalen Südens geblieben. Wir haben sie in Deutschland nur punktuell gespürt. Deshalb gab es neben einer wachsenden Unsicherheit vor allem am Anfang auch das Gefühl der scheinbaren Sicherheit.

Was beeinflusst, ob wir Angst kriegen oder ruhig bleiben?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Aber natürlich spielen die mediale Berichterstattung ebenso wie politische Entscheidungen und die damit verbundene öffentliche Kommunikation eine große Rolle. Gerade am Anfang der Krise – aber auch jetzt noch – gab es sehr unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang mit der Situation zwischen einzelnen Ländern. In Deutschland beispielsweise wurde zu Beginn viel beruhigt und versucht, mit der Pandemie möglichst gelassen umzugehen. Das kann sowohl positive als auch negative Folgen für das Angstgefühl in der Bevölkerung haben. Gerade dann, wenn in anderen Ländern scheinbar strenger agiert wird und rigide Maßnahmen früher ergriffen werden, kann eine auf Beschwichtigung setzende Herangehensweise Ängste sogar verstärken.

Auch Medienberichterstattungen über leere Regale und Hamsterkäufe können Angst auslösen und dazu führen, dass man selbst denkt, dass man sich ähnlich verhalten sollte, um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein. Als Folge dessen haben wir in den letzten Wochen ganz unterschiedliche Abstufungen von Ängsten beobachten können – sowohl in Deutschland als auch weltweit.

„Wie man mit Ängsten umgeht, wie sie entstehen und wie man sie kommuniziert ist immer gesellschaftsspezifisch.“

Sie haben angesprochen, dass nicht in jedem Land gleich mit der Situation umgegangen wird, welche Gründe gibt es dafür?

Wie man mit Ängsten umgeht, wie sie entstehen und wie man sie kommuniziert ist immer gesellschaftsspezifisch. Wir sind als Individuen nie unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Begebenheiten in unserer Umgebung und Historie. Dass also beispielsweise in Asien insgesamt schneller und auch drastischere Maßnahmen eingeführt wurden als in Deutschland hängt eng mit den historischen Erfahrungen zusammen. Dort gab es unter anderem mit SARS in den Jahren 2002/03 einen ähnlichen Krankheitsausbruch, der ebenfalls von China ausgegangen ist und der sich auf die Region ausgeweitet hat. Ein ähnliches Phänomen sieht man derzeit in Südafrika. Dort gab es zunächst verhältnismäßig wenige Infektionen und trotzdem wurde sehr schnell eine dreiwöchige, durch die Polizei und das Militär forcierte Ausgangsperre durchgesetzt. Das wiederum beruht auf den Erfahrungen mit HIV/AIDS und der hohen Belastung durch Krankheiten wie Tuberkulose – sowie auf dem Wissen, wie schwierig es ist, Infektionen in prekären Lebenssituationen einzuhegen. Hier ist die Bevölkerung schneller bereit mitzugehen, weil sie um die möglicherweise dramatischen Folgen weiß. In Europa hingegen gibt es in der jüngeren Vergangenheit keine vergleichbaren Erfahrungen mit gesellschaftsbedrohenden Epidemien und damit keine Blaupause, an der sich die Menschen orientieren können.

Trotzdem haben auch Spanien oder Italien schneller reagiert als in Deutschland, wie ist das zu erklären?

Dort gab es sehr rasch sehr viel höhere Fallzahlen und daher musste schneller reagiert werden. Auch sind die Gesundheitssysteme in beiden Ländern seit der Finanzkrise 2007/08 und den damit verbundenen Austeritätspolitiken enorm geschwächt und geraten viel schneller an die Grenzen der Belastbarkeit. In Deutschland ging man davon aus, dass die regionalen Ausbrüche unter Kontrolle gebracht werden können und das Gesundheitssystem insgesamt besser ausgestattet sei. Zudem liegt das teils zögerlich wirkende Herangehen aber auch daran, dass wir hier ein föderales System haben und damit unterschiedliche Strategien verfolgt wurden – und immer noch werden.

„Wie sich Ängste verteilen hat zudem damit zu tun, ob man beispielsweise jemanden in einer Krisenregion kennt – dann ist einem die Krankheit sehr viel näher.“

Hat es auch damit zu tun, dass wir in Deutschland historisch besonders schlechte Erfahrungen mit Freiheitsberaubung gemacht haben?

Ganz generell tun sich Menschen mit der Einschränkung von Grundfreiheiten in vielen Ländern schwer und das ist immer auch historisch begründet. Das gilt zum Beispiel auch für Spanien, wo die Franco-Zeit bis heute ebenfalls negative Erinnerungen und Ängste hervorruft. Solche Assoziationen werden wachgerufen, wenn die Polizei aktuell in den Straßen patrouilliert oder Drohnen für die Überwachung einsetzt. Es geht aus meiner Sicht eher darum, wie schlimm die akute Situation jeweils ist und welche Krisen man in der Vergangenheit erlebt hat, die schnelle und restriktive Maßnahmen in den Augen von Bevölkerungen legitimieren. Ganz generell gilt: Menschen in vielen Teilen Welt haben ein großes Streben nach Freiheit und wollen diese nicht dauerhaft aufgeben, nur weil temporär sie die Notwendigkeit dieses rigiden Handelns akzeptieren.

Nicht jeder reagiert gleich auf die Krise, wie kommen solche Unterschiede zustande?

Das hat viel mit den jeweiligen Lebenssituationen zu tun. Diejenigen, die medizinisch als Risikogruppe definiert wurden, waren früh sensibilisiert. Gleichzeitig gab es aber vor allem am Anfang auch die Botschaft an junge Menschen, dass sie eigentlich nicht viel zu befürchten hätten. Das alles wirkt sich auf unser Verhalten aus. Wenn man selbst nicht das Gefühl hat gefährdet zu sein, dann reagiert man auch nicht so schnell.

Wie sich Ängste verteilen hat zudem damit zu tun, ob man beispielsweise jemanden in einer Krisenregion kennt – dann ist einem die Krankheit sehr viel näher. Gleiches gilt, wenn man in direktem Kontakt mit Leuten steht, die im Gesundheitssystem arbeiten oder an der Supermarktkasse – oder dies sogar selbst tut. Alle diese Erfahrungen bringen uns die Erkrankung näher und spielen bei unserer Reaktion auf die Pandemie eine Rolle. Das zeigt, wie stark Ängste sozial unterschiedlich verteilt sind.

„Angst hat eine wichtige Funktion dafür, dass wir versuchen, uns und unsere direkte Umgebung zu schützen.“

Welche Rolle spielen die Aussagen von Autoritäten für unser Verhalten oder das Empfinden von Angst?

Das spielt eine sehr große Rolle. Wenn das Gefühl besteht, dass die Politik mit Plan handelt und uns Schutz bietet, dann entsteht Vertrauen. Man sieht ja sehr klar, dass hier auch unterschiedliche Mittel der Ansprache gewählt werden, je nach Land und Regierungschef und diese unterschiedlich wirken. Auch die Medien haben eine wichtige Funktion, weil der Bedarf an vertrauenswürdigen und wissenschaftlich gesicherten Informationen da ist. Das steigende Interesse an den öffentlich-rechtlichen Medien belegt dies.

Gleichzeitig sehen wir aber vor allem in den Sozialen Medien, dass viele zusätzliche Botschaften kursieren. Hier zirkulieren Informationen über die Krankheit, die oft falsch sind – die Menschen aber das Gefühl von Sicherheit vermitteln, etwas tun zu können. Verschwörungstheorien wiederum liefern eine Sinnerzählung: Sie geben der Krankheit eine tiefere Bedeutung, die wissenschaftliche Fakten allein nicht liefern und die viele suchen.

Die erste Assoziation mit Angst ist häufig eine negative, gibt es auch eine positive Seite von Angst?

Angst ist definitiv vieldeutig. Angst hat eine wichtige Funktion dafür, dass wir versuchen, uns und unsere direkte Umgebung zu schützen. Das ist per se erstmal positiv. Das kann aber natürlich auch kippen und zu unsozialen Verhaltensweisen führen. Aktuell sieht man, dass bestimmte moralische Verbindlichkeiten und ethische Werte teils wegfallen. Hamsterkäufe oder das Stehlen von Desinfektionsmitteln sind zwei Beispiele dafür, wie sonst gültige Normen in Frage gestellt oder sogar außer Kraft gesetzt werden. Das kann mit Angst oder Panik zu tun haben – ist aber natürlich im Fall von Diebstahl vor allem ein krimineller Akt.

Auf der anderen Seite kann aber durch Angst auch Solidarisierung entstehen. Sobald wir merken, dass wir uns selbst und unser direktes Umfeld schützen können, solidarisieren wir uns auch mit anderen, die dem Krankheitsrisiko noch stärker ausgesetzt sind. Das sehen wir bei allen negativen Seiten derzeit ebenfalls – sowohl innergesellschaftlich als auch im Ansatz über Ländergrenzen hinweg. Hier wirkt Angst quasi als verbindendes Element.

Es gibt ja bereits länger Warnungen dazu, dass globale Pandemien auftreten könnten. Weshalb hat uns der Ausbruch doch so überrascht?

Prognosen über Krisen sind generell nicht leicht nachhaltig zu kommunizieren. Ein ähnliches Phänomen beobachtet man ja beispielsweise beim Klimawandel, wo es neben vielfachen Bedrohungsszenarien sogar bereits greifbare Schäden gibt – die Bereitschaft selbst etwas dagegen zu tun, aber nur langsam ankommt. Im Fall von Corona kommt hinzu, dass frühere, potentiell grenzüberschreitende Krankheiten wie Ebola oder SARS uns in Nordeuropa nicht wirklich betroffen haben. Ich denke, dass sich das durch die Corona-Pandemie verändern wird. Sie führt uns vor Augen, dass wir in Deutschland für globale Infektionskrankheiten verletzlich sind. Das wird sich in unser kollektives Gedächtnis einprägen.

Für das, was in Zukunft von der Pandemie bleibt, ist aus meiner Sicht die Ebene der Mitmenschlichkeit sehr wichtig. Es wird zentral sein, wie wir innergesellschaftlich humanitäre Prinzipien – auch für die sozial Schwächsten wie Obdachlose und Geflüchtete – nicht außer Kraft setzen. Ein entscheidender Punkt ist zudem, ob es uns gelingt, internationale Solidarität und ein globales Narrativ für die Zusammenarbeit herzustellen. Ein Rückzug in nationalstaatliche und rein individuelle Lösungen ist für mich der falsche Weg aus der Krise.

Zur Person

Der Ethnologe Prof. Dr. Hansjörg Dilger ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin. Er ist zudem Mit-Initiator der Blogserie #WitnessingCorona, welche Texte zu Erfahrungen zum Umgang mit Corona aus der ganzen Welt sammelt.

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