Sie sprachen bereits von Verzerrungen in den Erinnerungen, was meinen Sie damit genau?
Das lässt sich gut an der Erinnerung an den 2. Weltkrieg verdeutlichen. Wir haben Menschen dazu befragt, ob sie von Vorfahren wissen, die Täter, Opfer oder Helfer waren, und finden viel mehr Erzählungen über Helfer als über Täter, was faktisch natürlich nicht sein kann. Die dominierenden Narrative sind also die der Helfer und Opfer im Vergleich zu den Tätern. Wir haben einen Hang dazu, positive Erinnerungen und Geschichten stärker in den Fokus der Erinnerung zu rücken – gerade persönliche, aber natürlich auch kollektive Erinnerungen. Ob das gut oder schlecht ist, möchte ich als Forscher nicht bewerten, aber es sind glaube ich wichtige Erkenntnisse für die Arbeit in der Praxis. Wir sollten als Gesellschaft eine Haltung dazu finden, wie wir mit solchen Verzerrungen umgehen wollen sonst laufen wir Gefahr, dass die Erinnerung an NS-Täterschaft zu einer abstrakten wird, mit der die meisten Deutschen sich persönlich nicht verbunden fühlen.
Sie veröffentlichen bereits seit drei Jahren den MEMO-Bericht zu Erinnerungskultur in Deutschland. Was sind außer der Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Fakten, die wir gerade besprochen haben, hier wesentliche Erkenntnisse?
Einen weiteren spannenden Aspekt fand ich die Frage dazu, ob Menschen Denkmäler und Gedenkstätten besuchen und wie sie solche Orte wahrnehmen. Sie spielen eine ganz entscheidende Rolle für die Erinnerungskultur und für die Erinnerung der Menschen – Geschichte wird durch diese Orte anders verständlich und zugänglich und das spiegelt sich in den Daten wider. Jeder zweite Befragte war bereits in einer Gedenkstätte und konnte diese auch noch benennen. Wir brauchen solche authentischen Orte für eine lebendige Erinnerungskultur.
Auch interessant finde ich, dass unsere Befragten regelmäßig ein großes Interesse an der eigenen Geschichte berichten und es viele Menschen wichtig finden darüber Bescheid zu wissen. Gleichzeitig sehen wir aber eine Diskrepanz zwischen tatsächlichem Wissensstand und dem, was Menschen eigentlich wichtig fänden zu wissen. Beispielsweise geben Menschen an, viel über die Fakten zum 2. Weltkrieg zu wissen, aber vergleichsweise weniger über die gesellschaftlichen Dynamiken und Hintergründe. Das wäre ja aber auch entscheidendes Wissen, wenn es darum geht aus der Vergangenheit zu lernen.
Wie kann man eine Erinnerungskultur gut gestalten?
Ich sehe unsere Aufgabe als Forscher nicht primär darin, die Erinnerungskultur zu gestalten, sondern deren aktuellen Status Quo zu analysieren und Entwicklungen aufzeigen. Der Transfer in die Praxis kann dann nur gemeinsam mit anderen Akteuren gelingen, deswegen ist uns die Zusammenarbeit mit Praktikern so wichtig. Eines der Grundprobleme, auf die wir in unserer Forschung immer wieder stoßen, ist, dass Erinnerungskultur eben zu weiten Teilen auf Erzählungen basiert und damit anfällig für Verzerrungen und Umdeutungen ist. Außerdem können wir auf Grundlage von Daten abschätzen, wie die Entwicklung sich fortsetzen wird, wenn wir so weitermachen wie bisher. Dann werden wir in ein paar Jahren eine Erinnerungskultur mit noch stärkerem Fokus auf Heldengeschichten haben. Hier braucht es also eine Debatte um die Zukunft der Erinnerungskultur, die wir als Gesellschaft wollen und wie wir sie gestalten können – unsere Forschung liefert hier hoffentlich Impulse, aber weder eindeutige Antworten, noch einfache Lösungen.