Foto: Tima Miroshnichenko/Pexels

Armutskreisläufe

Wenn arme Kinder zu armen Erwachsenen werden

Wer arm ist, bleibt arm”, so die Zusammenfassung über den sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, als dieser im Frühjahr 2021 vorgestellt wurde. Und mehr noch: Die Aufstiegschancen in Deutschland haben sich in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Während Ende der 1980er Jahre noch 60 Prozent der von Armut betroffenen Menschen innerhalb von fünf Jahren einen Aufstieg schafften, so sind es heute nur noch 30 Prozent, so der Bericht.

Solche Zahlen beschreiben die sogenannte soziale Mobilität in einer Gesellschaft, also wie viele Menschen sich im Laufe ihres Lebens zwischen den sozio-ökonomischen Schichten einer Gesellschaft bewegen – oder wie viele Kinder aus armen Familien noch als Erwachsene in Armut leben.  Sozial ist Armut ungleich verteilt: Arbeitslose, Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund sowie Familien mit mehr als drei Kindern sind deutlich häufiger von Armut betroffen als andere Personengruppen.

Die Psychologin Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS e. V.) nennt die Zahlen aus dem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht eine Verfestigung von Armut und findet sie „sehr erschütternd, aber nicht sehr überraschend”. Im Auftrag der AWO leitet Volf die „AWO-ISS-Langzeitstudie zu (Langzeit-)Folgen der Kinder- und Jugendarmut im Lebensverlauf”. Seit 1999 werden in der Studie 893 Kinder ab dem sechsten Lebensjahr begleitet und im Alter von 10, 16 und 25 Jahren auch persönlich befragt, um Auswirkungen von familiärer Einkommensarmut festzustellen und mitzuverfolgen, wie sich ihre Lebenslagen in unterschiedlichen Phasen entwickelten. So haben die Forschenden die Armutserfahrungen und die Armutsverläufe der Kinder und Jugendlichen in entscheidenden Übergangsphasen beobachten können, etwa beim Übergang zur weiterführenden Schule oder beim Eintritt ins junge Erwachsenenalter, in Ausbildung oder die eigenen Berufstätigkeit.

„Jugendliche mit Armutserfahrungen nehmen Stigmatisierung, Scham, Ausgrenzung und Mobbing besonders stark wahr. Das spielt eine sehr wichtige Rolle dafür, wie die Jugendlichen den Übergang ins junge Erwachsenenalter bewältigen.”

Dr. Irina Volf, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.

Die Ergebnisse der Studie zeichnen ein differenziertes Bild: Im Alter von 25 Jahren konnten 205 junge Menschen wieder erreicht werden. Insgesamt leben 36 Prozent derer, die als Kinder in Armut gelebt haben, auch noch als junge Erwachsene in Armut. Bis zum 17. Lebensjahr waren 54 Prozent weiterhin arm, die schon als Kinder arm waren. „Armutsverläufe sind sehr komplex. Manche sind durchgehend arm, andere nur in ihrer Kindheit. Wir beobachten beim Übergang ins junge Erwachsenenalter einen Trendbruch. Einige schaffen es, sich in dieser Lebensphase aus familiärer Armut zu befreien. Bildung und Erwerbstätigkeit bleiben die sichersten Faktoren für solche Aufstiege. Weitere Schutzfaktoren scheinen der Auszug aus dem Elternhaus und eine feste Partnerschaft zu sein,” so Irina Volf.

Besonders schwer haben es aber diejenigen, die gerade in ihrer Jugend Armutserfahrungen gemacht haben: „Jugendliche mit Armutserfahrungen nehmen Stigmatisierung, Scham, Ausgrenzung und Mobbing besonders stark wahr. Das spielt eine sehr wichtige Rolle dafür, wie die Jugendlichen den Übergang ins junge Erwachsenenalter bewältigen,” erläutert die Psychologin.

„Wenn ein Kind immer wieder mit einer schichtspezifischen Begabungserzählung konfrontiert wird, glaubt das Kind das irgendwann und nimmt sich als weniger begabt wahr.”

Prof. Dr. Johannes Schütte, Technische Hochschule Köln

Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Johannes Schütte, Professor für Sozial- und Bildungspolitik an der Technischen Hochschule in Köln, hat sich mit einer theoretischen Brille mit der „sozialen Vererbung” von Armut beschäftigt – und liefert einen Erklärungsansatz für das, was Irina Volf in ihrer Forschung beobachtet hat. „Die soziale Vererbung meint die Weitergabe bestimmter Lebensstile oder Handlungsmuster von den Eltern an die Kinder.” Lebensstile können dabei etwa die Art sein, wie wir uns kleiden, Handlungsmuster etwa das Interesse oder die Neigung für ein bestimmtes Hobby. So würden Kinder aus akademisch geprägten Haushalten etwa eher Geige spielen, was aber nicht an einer größeren Begabung liegt, sondern lediglich daran, dass das in dem familiären Umfeld als „spannend” gilt, erläutert Schütte. Armen Kindern fehle häufig der Zugang zu solchen akademischen Handlungsmustern. „Das wäre erstmal nicht weiter schlimm, wenn unsere Vorstellung von erstrebenswertem Verhalten und Erfolg im Bildungssystem nicht so sehr aus akademischen Zusammenhängen definiert wäre. So führt es aber vor allem dazu, dass wir armen Kinder weniger zutrauen”, so Schütte und ergänzt: „Wenn ein Kind immer wieder mit einer schichtspezifischen Begabungserzählung konfrontiert wird, glaubt das Kind das irgendwann und nimmt sich als weniger begabt wahr.” Volf sieht dagegen vor allem strukturelle Hindernisse auf dem Weg zur Talententfaltung. Sie begleitet ein Modellprojekt in Gelsenkirchen zu armutssensiblem Handeln in Kindertageseinrichtungen und schlussfolgert: „Talentförderung in Kindertageseinrichtungen braucht einen scharfen, armutssensiblen Blick. Denn Kinder können erst dann ihre Begabungen und Talente entdecken, wenn sie überhaupt eine Chance bekommen, etwas Neues auszuprobieren und Spaß an etwas zu entwickeln.“ Hier könne frühe Bildung einen entscheidenden Beitrag leisten.

„Bildung erhöht in der Langzeitperspektive die Erwerbsintensität und  dabei ist die frühkindliche Bildung ganz besonders entscheidend.”

Dr. Irina Volf, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.

Um das Ausbrechen aus solchen Armutskreisläufen zu ermöglichen, ist für beide Forschende vor allem eine Armutssensibilisierung in der Gesellschaft zentral. Das bedeutet das pädagogische Personal, Fachkräfte in Beratungsstellen und gesamtgesellschaftlich für Armut und deren Folgen zu sensibilisieren. „Damit könnte erreicht werden, dass die falschen Zuschreibungen von weniger Kompetenz oder Talent, überhaupt erst wahrgenommen werden, bevor sie sich negativ auf die Kinder auswirken”, sagt Johannes Schütte. Er nennt vor allem Selbstwirksamkeitserfahrungen etwa in der Erlebnispädagogik als ein wichtiges Mittel, um Kindern und Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie selbst etwas verändern können.

Für  Irina Volf ist hingegen Bildung ein entscheidender Faktor: „Bildung erhöht in der Langzeitperspektive die Erwerbsintensität und  dabei ist die frühkindliche Bildung ganz besonders entscheidend.” Eine Studie von Soziologen des Trinity College in Dublin verdeutlicht die Bedeutung von frühkindlicher Förderung: Demnach sind die Bildungsunterschiede in Deutschland zwischen armen und nicht-armen Kindern bereits im Vorschulalter gravierend und bleiben in der Schule zwar stabil, aber werden nicht kleiner. Einen Grund dafür sieht Volf darin, dass viele arme Kinder nicht in Kindertageseinrichtungen sind: „Viele der Kinder bekommen keinen Zugang, weil ihre Eltern nicht erwerbstätig sind. Dabei brauchen genau diese Kinder die institutionelle Förderung. Der Zugang zur Bildung ist ein Kindesrecht und soll jedem Kind von den ersten Lebensjahren zustehen.”

„Nur auf der Grundlage einer Umverteilung von oben nach unten kann echte Armutsbekämpfung passieren.”

Prof. Dr. Johannes Schütte, Technische Hochschule Köln

Noch wichtiger ist es aber für sie, die strukturellen Hürden abzubauen, die armen Kindern und Jugendlichen immer wieder begegnen: „Wenn ein Jugendlicher sich etwas dazuverdienen will, um am sozialen Leben seiner Freunde teilzuhaben, hat er dafür weniger Zeit für die Schule und muss am Ende des Monats sogar feststellen, dass den Eltern sein Zuverdienst von den Sozialleistungen abgezogen wird. Das bringt junge Menschen in eine Perspektivlosigkeit!”, mahnt Volf. Für Johannes Schütte ist hingegen die Umverteilung von Kapital einen wichtigen Schritt, um Kindern langfristig den Weg aus der Armut zu ermöglichen: „Nur auf der Grundlage einer Umverteilung von oben nach unten kann echte Armutsbekämpfung passieren.”

Beide Experten sehen die Politik in besonderer Verantwortung: „Der Hauptgrund, warum so viele Kinder in Deutschland armutsgefährdet sind, sind die politischen Strukturen, sie sich in strukturellen Barrieren und Ungleichheit niederschlagen”, so Volf. Eine Änderung der bisherigen Politik hin zu einer stärkeren Bekämpfung der Ursachen von Kinderarmut und gleichzeitiger Erhöhung der sozialen Mobilität ist daher für beide Expert*innen essentiell.

Mehr zu dem Thema