Wie problematisch ist es, dass durch die verschiedenen Berechnungsmodelle unterschiedliche Zahlen dazu entstehen, wie viele Kinder tatsächlich von Kinderarmut betroffen sind?
Die Zahlen, wie viele in Deutschland in Kinderarmut leben, variieren dadurch natürlich stark. Aber mit jeder Definition von Armut möchte man eine Gruppe abgrenzen, die im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft in Armut lebt, und das ist gleichfalls problematisch. Wo die Grenze zwischen Armut und Nicht-Armut verläuft, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage, sondern eine normative – und somit politische – Frage: Ab welchem Punkt wollen wir, dass das Gemeinwesen einspringt und Personen hilft, die in einer besonderen Lage sind? Wie generös soll der Staat sich zeigen und wie stark möchte er die Lebensverhältnisse aller Menschen gerecht gestalten?
Welche Aspekte aus der Erforschung der Kinderarmut halten Sie für zu wenig berücksichtigt?
Es gibt eine Vielzahl an Kontroversen und disziplinspezifischen Zugängen, die einen ganz anderen Blick auf die Problematik werfen. Gerade qualitative Ansätze können hier eine wichtige Perspektive einbringen. Dabei geht es vor allem um Fragen, wie die Kinder selbst ihre Situation erleben und diese innerhalb ihres Haushaltes darstellen. Das ist nicht so sehr eine Frage der quantitativen Bemessung von Einkommensarmut, sondern vielmehr eine Forschung, wo es um zusammenhängende und sich verstärkende Aspekte wie Kindeswohl, die familiäre Situation, Fragen der Förderung und Vernachlässigung geht – das geht aber aus einer reinen Armutsquote von 14, 18, oder 21 Prozent nicht hervor. Und diese Lebensrealität müssen wir anerkennen und stärker in der Forschung berücksichtigen.
Welches Bild herrscht in Deutschland von Kinderarmut und Armut im Allgemeinen?
In der Politik hatten wir eine lange Zeit, in der der Umgang mit den Betroffenen sehr restriktiv war und auch teilweise mit harten Schuldzuweisungen gearbeitet wurde. Die Diskussionen verliefen medial und in der Politik eher darum, wie stark man Haushalte sanktionieren und in die Pflicht nehmen sollte. Dadurch entstand allerdings auch oftmals der falsche Eindruck, dass Menschen, die in Armut leben, selbst an ihrer Situation schuld seien. Aus der Wissenschaft gab es dagegen berechtigte Vorbehalte, denn die Betroffenen sind nicht schuld an den strukturellen Ursachen ihrer Armut, das ist wissenschaftlich gut belegbar. Vielmehr sind es gewisse Risikofaktoren und die Kumulierung verschiedenster Aspekte, die in eine solche Lage führt. Und die Lebensverhältnisse sind häufig wirklich schlimm. Da helfen weniger Schuldzuweisungen und Sanktionen, als zielgerichtete Maßnahmen.