Foto: Lukas Klose

„Letztlich ist es eine politische Frage”

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg

Wie gravierend ist das Problem der Kinderarmut in Deutschland?

Die Kinderarmut ist genauso wie die generelle Armut ein gravierendes Problem in Deutschland. Aktuelle Zahlen zeigen, dass die Verbreitung von Armut und Kinderarmut in den letzten Jahrzehnten sogar stark zugenommen hat und immer mehr Menschen in Armut leben müssen. Kinderarmut ist in der gesamten Armutsproblematik vor allem deswegen besonders relevant, weil es die nächste Generation betrifft, die in diese Verhältnisse hineingeboren wird. Insofern liegt im Kontext der Armutsdebatte immer ein besonderer Fokus auf Kinder, weil sie die schwächsten Glieder in dem ganzen Gefüge sind und man ihnen aus moralischen und ethischen Gründen bessere Startchancen wünschen würde, als solche, die sie unter Armutsbedingungen vorfinden.

„Die meisten Menschen, die in Deutschland in Armut leben, sind keine Kinder. Aber natürlich haben Kinder ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko – stärker noch als andere Altersgruppen – und sind also überproportional häufig von Armut betroffen.“

Wie stark sind Kinder denn von Kinderarmut betroffen?

So wie Kinder in der Gesamtheit der Bevölkerung einen eher geringen Anteil haben, ist das auch bei der Armut. Die meisten Menschen, die in Deutschland in Armut leben, sind keine Kinder. Aber natürlich haben Kinder ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko – stärker noch als andere Altersgruppen – und sind also überproportional häufig von Armut betroffen. Das liegt unter anderem daran, dass Haushalte, die Kinder haben, überproportional häufiger in Armut leben als kinderlose Haushalte und wir Armut fast ausschließlich über den Haushaltskontext bestimmen.

Welche Ansätze und Konzepte werden zur Bestimmung von Kinderarmut herangezogen?

In der Armutsforschung ist es sehr üblich, mehr als nur ein Konzept zu verwenden. Denn jedes der Konzepte hat seine Vor- und Nachteile und erst in der Gesamtschau aller methodischen und definitorischen Ansätze ergibt sich ein großes, ganzes Bild. Insofern gibt es in der Armutsforschung schon immer die Tradition, Armut auch multidimensional zu messen; also nicht nur auf das laufende Einkommen zu schauen, sondern auch andere Aspekte der sozialstaatlichen Absicherung und der materiellen und immateriellen Lebenslagen mit einzubeziehen.

Eine der Definition von Kinderarmut setzt an der sozialstaatlich definierten Armutsgrenze an und bezeichnet all jene Kinder als „arm”, die in Haushalten mit Grundsicherung leben. Was spricht gegen einen solch einheitlichen Ansatz?

Es ist durchaus üblich, sich am gesetzlich festgelegten soziokulturellen Existenzminimum zu orientieren. Gleichwohl wissen wir, dass das auch ein problematisches Maß als Indikator für die Entwicklung von Armut ist. In Deutschland haben wir sehen können, dass in den 1980er-Jahren, als der Problemdruck in der Bevölkerung besonders stark zunahm, die Generosität der Sozialhilfe einfach zurückgefahren wurde und sich die allgemein zu beobachtende Verschärfung der Armutslagen deshalb nicht vollständig in den Zahlen widerspiegelten. Andersherum: Wenn die soziale Absicherung schon früher ansetzt, profitieren zwar mehr Personen von staatlichen Leistungen, aber gleichzeitig erscheint es so, als ob es plötzlich mehr Armut in Deutschland gäbe. Daher taugt dieser Schwellenwert nicht zur Betrachtung von Armutsentwicklungen. Hinzu kommt das Problem der Nichtinanspruchnahme von Leistungen, was zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Armut führt.

„Wo die Grenze zwischen Armut und Nicht-Armut verläuft, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage, sondern eine normative – und somit politische – Frage: Ab welchem Punkt wollen wir, dass das Gemeinwesen einspringt und Personen hilft, die in einer besonderen Lage sind?“

Wie problematisch ist es, dass durch die verschiedenen Berechnungsmodelle unterschiedliche Zahlen dazu entstehen, wie viele Kinder tatsächlich von Kinderarmut betroffen sind?

Die Zahlen, wie viele in Deutschland in Kinderarmut leben, variieren dadurch natürlich stark. Aber mit jeder Definition von Armut möchte man eine Gruppe abgrenzen, die im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft in Armut lebt, und das ist gleichfalls problematisch. Wo die Grenze zwischen Armut und Nicht-Armut verläuft, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage, sondern eine normative – und somit politische – Frage: Ab welchem Punkt wollen wir, dass das Gemeinwesen einspringt und Personen hilft, die in einer besonderen Lage sind? Wie generös soll der Staat sich zeigen und wie stark möchte er die Lebensverhältnisse aller Menschen gerecht gestalten?

Welche Aspekte aus der Erforschung der Kinderarmut halten Sie für zu wenig berücksichtigt?

Es gibt eine Vielzahl an Kontroversen und disziplinspezifischen Zugängen, die einen ganz anderen Blick auf die Problematik werfen. Gerade qualitative Ansätze können hier eine wichtige Perspektive einbringen. Dabei geht es vor allem um Fragen, wie die Kinder selbst ihre Situation erleben und diese innerhalb ihres Haushaltes darstellen. Das ist nicht so sehr eine Frage der quantitativen Bemessung von Einkommensarmut, sondern vielmehr eine Forschung, wo es um zusammenhängende und sich verstärkende Aspekte wie Kindeswohl, die familiäre Situation, Fragen der Förderung und Vernachlässigung geht – das geht aber aus einer reinen Armutsquote von 14, 18, oder 21 Prozent nicht hervor. Und diese Lebensrealität müssen wir anerkennen und stärker in der Forschung berücksichtigen.

Welches Bild herrscht in Deutschland von Kinderarmut und Armut im Allgemeinen?

In der Politik hatten wir eine lange Zeit, in der der Umgang mit den Betroffenen sehr restriktiv war und auch teilweise mit harten Schuldzuweisungen gearbeitet wurde. Die Diskussionen verliefen medial und in der Politik eher darum, wie stark man Haushalte sanktionieren und in die Pflicht nehmen sollte. Dadurch entstand allerdings auch oftmals der falsche Eindruck, dass Menschen, die in Armut leben, selbst an ihrer Situation schuld seien. Aus der Wissenschaft gab es dagegen berechtigte Vorbehalte, denn die Betroffenen sind nicht schuld an den strukturellen Ursachen ihrer Armut, das ist wissenschaftlich gut belegbar. Vielmehr sind es gewisse Risikofaktoren und die Kumulierung verschiedenster Aspekte, die in eine solche Lage führt. Und die Lebensverhältnisse sind häufig wirklich schlimm. Da helfen weniger Schuldzuweisungen und Sanktionen, als zielgerichtete Maßnahmen.

„Jeder würde wohl zustimmen, dass alle Kinder gleiche Startchancen brauchen. Gleichzeitig sehen wir, dass in anderen gesellschaftlichen Schichten enorme Statusängste und Unsicherheiten herrschen, die den effektiven Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in gewissen Maße entgegen oder in Konkurrenz dazu stehen.“

Was braucht es ganz konkret, um Kinderarmut stärker aus der Gesellschaft entgegenzuwirken?

Dafür sind zwei Gründe maßgeblich: Zum einen ist die Aufmerksamkeit für das Problem weiterhin zu gering. Wer sich für das Thema interessiert, findet auch gute qualitative Studien und quantitative Erhebungen. Aber teilweise fehlt es im gesellschaftlichen Verständnis, all dieses Wissen zusammenzutragen und in einem Bild festzuhalten. Und als zweites ist es auch eine Frage von Solidarität. Jeder würde wohl zustimmen, dass alle Kinder gleiche Startchancen brauchen. Gleichzeitig sehen wir, dass in anderen gesellschaftlichen Schichten enorme Statusängste und Unsicherheiten herrschen, die den effektiven Maßnahmen zur Armutsbekämpfung in gewissen Maße entgegen oder in Konkurrenz dazu stehen. Denn niemand möchte, dass die Förderung Benachteiligter zu Lasten der Förderung der eigenen Kinder geht. Aber dabei bleiben in unserer Konkurrenzgesellschaft immer die Benachteiligten auf der Strecke.

Zur Person

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg ist Professor für Soziologie am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium) der Universität Bremen. Schwerpunkte seiner Forschung sind soziale Ungleichheit und Ungleichheitsdynamiken in Wohlfahrtsgesellschaften.

Foto: Lukas Klose

Mehr zu dem Thema