Foto: Alex Radelich / unsplash

„Wir brauchen mehr Raum für Widersprüchlichkeit und Ungewissheit“

Ein Interview mit dem Diskurssoziologen Prof. Dr. Reiner Keller

Sie haben in einem Forschungsprojekt von 2017 bis 2021 die Diskussionen zu Fracking in Polen, Deutschland und Frankreich verglichen. Wie sind Sie da vorgegangen?

Fracking ist in all diesen Ländern etwa ab 2010 bis 2015 ein großes Thema geworden. Nach einer ersten Sondierung ist uns schon aufgefallen, dass die Debatten sich in einigen Punkten deutlich unterscheiden. Die wollten wir uns genauer anschauen. Wir haben uns zuerst das institutionelle Gerüst in den jeweiligen Ländern angesehen: Wer ist zuständig, welche Behörden und welche Unternehmen sind aktiv? Danach haben wir in einer qualitativen Medienstudie zahlreiche Medienbeiträge analysiert. Dazu kamen die verschiedenen Gutachten, die in den drei Ländern erstellt wurden: Wer hat sie beauftragt? Wer hat sie durchgeführt? Wie wird darin argumentiert? In einem dritten Schritt wollten wir eigentlich Vor-Ort-Fallstudien machen, um die lokalen Konfliktverläufe besser zu verstehen. Wegen der Corona-Pandemie konnten wir nicht nach Polen und Frankreich reisen, und auch in Deutschland war das dann nur sehr eingeschränkt möglich.

Was war in Frankreich anders als in Polen und in Deutschland?

In Frankreich begann die öffentliche Debatte mit ersten staatlichen Bohrgenehmigungen Anfang 2010. Das erfolgte durchaus regelkonform, aber dabei wurden die Departments und lokale Administrationen der Regionen nicht einbezogen, in denen die Bohrungen stattfinden sollten. Der Konflikt lief sofort entlang der in Frankreich klassischen Linien: Zwischen dem zentral organisierten Staat, der Entscheidungen trifft, und den Departments und regionalen Gebieten, wo diese Entscheidungen umgesetzt werden sollen. Die Geschwindigkeit und Stärke, mit der sich der Protest entwickelte, hatte mehrere Ursachen: Genehmigungen in Südfrankreich betrafen zufällig Gegenden, die aus früheren Auseinandersetzungen über wohl etablierte Proteststrukturen und prominente ökologische Kritikerpersönlichkeiten verfügten. Hinzu kam eine leicht aufrufbare und weit verbreitete ‚Anti-USA-Haltung‘ in Frankreich. Ein Film wie „Gasland“ konnte viele gegen Fracking mobilisieren. In dieser Zeit standen außerdem mehrere entscheidende Wahlen auf nationaler Ebene an. Einige Wahlkreise von bekannten Politiker*innen lagen in den betroffenen Departments. Die wollten ihre Wähler*innen beschwichtigen. Diese Faktoren haben dazu geführt, dass die Politik sehr schnell zurückgerudert ist. Es wurde dann – wie das in Frankreich üblich ist – auf nationaler Ebene ein Bericht erstellt: Dabei erheben Abgeordnete auf Basis von Befragungen aller Protagonisten – also der Politik, der Industrie, Verwaltung, Wissenschaft, NGOs und Bürger*inneninitiativen – ein Stimmungsbild. Daran anschließend ist sehr schnell der Beschluss gefasst worden, dass Fracking verboten werden soll. Dieser Beschluss ist seitdem ziemlich stabil geblieben. 

Wie sah die Debatte in Polen aus?

In Polen wurde das größte Schiefergasvorkommen innerhalb Europas prognostiziert. Unternehmen – etwa aus den USA – hatten bei den Behörden die entsprechenden Genehmigungen für Bohrungen beantragt und haben diese zum Teil sehr schnell bekommen. Beschleunigt wurde das durch zwei Besonderheiten: Polen wollte zum einen seine Energieautonomie gegenüber Russland stärken und entsprechende Importe verringern, und zum anderen den Kohleeinsatz verringern, um den EU-Auflagen zum Klimaschutz besser nachzukommen. Das Schiefergas schien beide Probleme ein Stück weit lösen zu können. Es gab zwar Proteste, aber die waren vergleichsweise klein und in einem Bruchteil der betroffenen Regionen. Das Vorhaben ist dann sehr schnell in sich zusammengefallen: Die behördlichen Genehmigungsverfahren liefen nur sehr schleppend. Die ersten durchgeführten Bohrungen zeigten, dass es viel weniger Gasvorkommen gab als zunächst geschätzt. Und dann sind noch die internationalen Energiepreise gefallen, was die Gewinnerwartungen der Industrie senkte. Das hat die Schiefergasgewinnung in Polen – die ja doch wie überall hohe und langfristige Investitionen erfordert – dann endgültig unattraktiv für die Unternehmen gemacht. Diese zogen sich nach einigen Bohrungen schnell zurück – trotz erwartbaren und erteilten Genehmigungen, trotz großer öffentlicher und politischer Zustimmung.

Wie würden Sie die Auseinandersetzungen in Deutschland beschreiben?

Um 2010 haben die ersten Unternehmen Anträge für Probebohrungen gestellt. Daraufhin gab es sehr schnell Proteste aus verschiedenen Richtungen und deutschlandweit Gründungen von kommunalen bzw. lokalen Initiativen gegen Fracking. Protestiert haben nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch Unternehmen, die sauberes Wasser für ihre Produkte benötigen, aber auch Kommunen und lokale Politik, etwa aus Sorge um die Trinkwasserversorgung. Ein Grund war, dass die Genehmigungen zwar dem Bergrecht folgend regelkonform, aber doch sehr schnell und ohne weitere Bürgerbeteiligung oder Umweltprüfungen erteilt wurden.  Die Bürgerinitiativen konnten mit Bildern aus den USA über Probleme im Zusammenhang mit Fracking die breite Öffentlichkeit mobilisieren. Daraufhin hat die Politik die Verfahren erstmal angehalten, bevor die Bohrungen beginnen konnten. Exxon Mobile initiierte ab Sommer 2012 einen längeren Bürgerinfodialog zum Thema Fracking und versuchte darin, die kritischen Stimmen von der Sicherheit und Unbedenklichkeit der Technologie zu überzeugen.

„Es gab die Hoffnung, dass eine umfassende Versammlung naturwissenschaftlichen Wissens sagen wird, ob wir fracken sollen oder nicht.“

Landesregierungen und auch die Bundesregierung haben verschiedene Gutachten beauftragt. Diese wissenschaftlichen Gutachten hatten unterschiedliche Schwerpunkte und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Während ein Teil der Gutachten die Vorteile der Technologie und Gaserschließung als wichtiger ansieht und die Risiken als eher gering einschätzt, betonten etwa das Umweltbundesamt oder der Sachverständigenrat für Umweltfragen in ihren Gutachten das bestehende Nichtwissen und die Risiken – wobei die Gutachten auch unterschiedliche Fragestellungen behandelten. Die Diskussion wurde kontrovers geführt und auch die Konfliktlinien verliefen quer durch die Akteursgruppen: etwa zwischen der Energieindustrie und der wassernutzenden Industrie, innerhalb der Parteien oder auch innerhalb der Wissenschaft. Die Bundespolitik beschloss dann ein Moratorium, also eine vorläufige Nichtgenehmigung, die im Frühjahr 2017 in Kraft trat. Sie sah nur eine kleine Zahl von Probebohrungen vor. Eine unabhängige Expertenkommission sollte weitere Expertisen zusammentragen und die Probebohrungen begleiten, um mehr Wissen zu generieren, und schließlich die Risiken abschließend bewerten. In Deutschland gab es eine Art „Glauben an die ultimative Expertise“ – so haben wir das charakterisiert. Es gab die Hoffnung, dass eine umfassende Versammlung naturwissenschaftlichen Wissens sagen wird, ob wir fracken sollen oder nicht. Der Bericht liegt seit Sommer 2021 vor und sieht keine wesentlichen Hinderungsgründe, solange alles kontrolliert und nach höchsten technischen Standards verläuft. Er verweist aber selbst darauf, dass es eine politische Entscheidung bleibt und weitere Faktoren eine Rolle spielen können.

Welche Rolle haben der Film „Gasland“ und die Berichte über Fracking-Unfälle in den USA im deutschen Diskurs gespielt?

Der Film und die Bilder aus den USA haben schon eine große Rolle in der Mobilisierung und in der Dynamik der Debatte gespielt. Danach wurde die Diskussion zumindest in Deutschland – nicht so sehr in Frankreich – aber schnell differenzierter: Inwiefern lässt sich das, was in den USA passiert ist, überhaupt auf Deutschland übertragen? Die besitzrechtlichen Grundlagen, die Siedlungsdichte, die Grundwassernutzungen, die Abbaubedingungen, die Gesteinsformation und die Größe der Felder sind einfach sehr unterschiedlich – das gilt aber in beide Richtungen. Es wurde schnell klar, dass sich weder das Positive noch das Negative aus den USA einfach für Deutschland übernehmen lässt. Die Diskussion rund um die Vorkommnisse hat aber bestimmt für den politischen Impuls gesorgt zu sagen: Stopp, wir müssen da genau hinschauen, bevor wir hier mit dieser Technologie starten. Deshalb sollte eben erstmal mehr Wissen gewonnen werden. Ich finde, wie das in Deutschland gelaufen ist, ist ein Beleg für eine sehr sorgfältige Abwägung.

„Für uns war überraschend, dass es in Deutschland eben zwar zunächst diese starken Pro-Contra-Fraktionen gab, man dann aber sehr schnell dazu überging, zur weiteren Klärung wissenschaftliche Expertise in die Diskussion zu holen.“

Also gab es für die Diskussion in Deutschland einen sehr emotionalen Auslöser, aber am Ende wurde die Debatte faktenbasiert geführt?

Genau, sehr viel stärker als in Frankreich oder Polen. Natürlich spielen viele Faktoren eine Rolle, unter anderem auch der jeweilige nationale Energiemix und seine Erzeugung, das Know How und Gewinninteresse von Unternehmen oder die Preisbildungen vor allem am Rohölmarkt. Für uns war das überraschend, dass es in Deutschland eben zwar zunächst diese starken Pro-Contra-Fraktionen gab, man dann aber sehr schnell dazu überging, zur weiteren Klärung wissenschaftliche Expertise in die Diskussion zu holen. Die ist aber eben zu keinem klaren Urteil gelangt, sondern hat genau die Fragen benannt, die politisch gelöst werden müssen: Wie können die Gewinninteressen der Industrie, die politischen Fragen der Energieversorgung und die möglichen Folgen für die lokale Bevölkerung gegeneinander abgewogen werden? Wer haftet, wenn doch etwas passiert? Welche Größen sollen für die Beurteilung von Vorteilen und Nachteilen, von Ungewissheiten und möglichen Gefährdungen eine Rolle spielen? Mit solchen Fragen müssen wir eine Umgangsform finden.

Sind wir da auf einem guten Weg?

Ich denke schon. Wir haben hier in Deutschland eine gut etablierte Struktur von unterschiedlichen Expertisen. Die widersprechen sich dann auch mal, aber das ist ein Vorteil. Denn das macht klar: Auch wissenschaftlich-technisches Wissen ist nicht absolut, sondern es beruht immer auf spezifischen Grundlagen – so können manche Parameter berücksichtigt und einbezogen werden, dafür finden andere keine Berücksichtigung. Was ist also die Grenze von ‚sicherem‘ Wissen, und wo geht es um eine politische Entscheidung? Das macht es aber natürlich schwerer und unbequemer, denn viele Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten. Wissenschaft sucht immer nach Fehlern und kommuniziert klar die Grenzen des eigenen Wissens. Das Befragen, der Zweifel und die Suche nach ‚robusterem‘ Wissen sind ja wesentliche Grundmotive. Auch wenn das in der Bevölkerung für Verunsicherung sorgen kann, ist es wichtig, genau das weiter zu kommunizieren. Wir müssen klar machen, wann eine Entscheidung eine politische Entscheidung ist, die zwar wissenschaftlich fundiert, aber nicht durch Wissenschaft determiniert ist.

Was hat sich nun durch den Krieg in der Ukraine und die Sorge um die Energieversorgung im Diskurs geändert?

Wir haben schon gegen Ende vergangenen Jahres in den drei Ländern festgestellt, dass es wieder erste Initiativen für Schiefergas-Fracking gibt. Das lag vor allem am erneut gestiegenen Rohölpreis. Da sind dann eben eher Gewinne zu erwarten und das wird dann wieder interessanter. Der Krieg hat dem eine erhebliche zusätzliche Dynamik gegeben. Das führt zu neuen Bewertungen: Vielleicht wiegen manche Gutachten jetzt schwerer als andere. Vielleicht werden mögliche Schäden oder lokale Belastungen jetzt eher in Kauf genommen. Andererseits kann man vor dem Hintergrund der aktuellen und wohl zunehmenden Wasserknappheit fragen, ob der mögliche Wasserverbrauch eine relevantere Größe wäre, als er das in den bisherigen Abschätzungen war? Wir sprechen in unserem Abschlussbericht deswegen von der „relativen Schmutzigkeit“ von Fracking. Denn die Bewertung, wie gefährdend es ist oder wie nützlich es sein kann hängt stark vom Kontext und von einer Güterabwägung ab. Diese Abwägungen müssen jetzt wieder öffentlich diskutiert werden.

Welche Aspekte kommen Ihnen in der aktuellen Debatte zu kurz?

Was man noch stärker hervorheben muss ist, dass es eben nicht die eindeutige wissenschaftliche Antwort gibt und auch nicht die perfekte Technologie oder hundertprozentige Sicherheit. Wir müssen kollektiv bestimmen, mit welcher Art von Unsicherheit wir bereit sind zu leben. Wir brauchen mehr Geduld und Raum für Widersprüchlichkeit und Ungewissheit. 

 

Zur Person

Prof. Dr. Reiner Keller leitet den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Augsburg. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der wissenssoziologischen Diskursanalyse.

Foto: Universität Augsburg

Mehr zu dem Thema