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Kinderarmut in unserer Gesellschaft

Über die Bedeutung auf gesellschaftlicher und bildungspolitischer Ebene

Ob der Besuch im Kino, die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder die Klassenfahrt: Für viele ist das selbstverständlich; wer in Armut aufwächst, kommt teilweise schon hierbei in finanzielle Nöte. Setzt man an üblichen Definitionen an, wer in Kinderarmut lebt, ist das die Realität für etwa jedes fünfte Kind in Deutschland

Wenn das Geld für Freizeitveranstaltungen nicht reicht, ist die gesellschaftliche und soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen aus Armutslagen stark eingeschränkt – mit erheblichen Folgen für die Heranwachsenden: „Teilnahme an außerschulischen Angeboten ist ein ganz zentraler Bestandteil gelingenden Aufwachsens”, sagt auch Prof. Dr. Silke Tophoven von der Hochschule​ Düsseldorf mit Verweis auf die Bedeutung von nicht-formaler Bildung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. „Es ist wichtig, dass wir für ein chancengerechtes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendlichen soziale Teilhabe ermöglichen und Barrieren abbauen, die das verhindern”, so Tophoven, die sich in ihrer Forschung vor allem mit Kindern und Jugendlichen in Armut auseinandersetzt.

„Besonders längere Armutslagen können zu einer geringeren sozialen Teilhabe führen. Und das ist problematisch.”

Prof. Dr. Silke Tophoven, Hochschule Düsseldorf

Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall: Eine von Tophoven mitverfasste Studie zeigte, wie sehr soziale Teilhabe von den finanziellen Verhältnissen der Haushalte abhängt. Untersucht wurde dies unter anderem am Beispiel von kulturellen und sozialen Veranstaltungen und Vereinsmitgliedschaften. Die bisherige Forschungslage zeigt, dass etwa neun Prozent der Kinder in Deutschland auf Aspekte sozialer Teilhabe verzichten müssen. Im Ergebnis zeigt sich, dass bloß ein Drittel der in Armut lebenden Kinder Mitglied in einem Verein ist – im Gegensatz zu rund 75 Prozent der finanziell dauerhaft abgesicherten Kinder. „Besonders längere Armutslagen können zu einer geringeren sozialen Teilhabe führen. Und das ist problematisch”, sagt Tophoven. 

Nicht nur in Bezug auf soziale Teilhabe als Form von nicht-formaler Bildung, sondern auch hinsichtlich schulischer Bildung zeigen sich durch die Armut bedingte Unterschiede bei Kindern. Rund 20 Prozent aller Kinder, so die Ergebnisse der PISA-Studie von 2018, kommen nicht auf ein ausreichendes Bildungsniveau. Oftmals sind insbesondere Kinder in Armutslagen und „ungünstigen sozioökonomischen Hintergründen” (Ergebnisbericht für Deutschland) besonders stark davon betroffen. „Leider sehen wir in Deutschland, dass Bildungschancen im Besonderen weiter sehr stark von der sozialen Herkunft abhängen“, sagt Tophoven. Daraus folgt auch ein herabgesetztes Qualifikationsniveau im Vergleich zu anderen Gruppen.

„Es stimmt nicht, dass man in homogenen Klassen bessere Leistungen erhält, als in heterogen zusammengesetzten Klassen.”

Prof. Dr. Roland Merten, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Für Prof. Dr. Roland Merten, Institutsdirektor und Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland eindeutig feststellbar: „Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das auch nur gesamtgesellschaftlich bearbeitet werden kann“, sagt Merten, der unter anderem zu Kinderarmut und sozialpolitischen Voraussetzungen der Sozialpädagogik forscht. Die in Deutschland geltende Antragspflicht für Leistungsbezüge führt dazu, dass vielen ihre Rechtsansprüche vorenthalten werden. Ein zentrales Problem, so Merten, ist, dass die finanziellen Leistungen einen Großteil der Kinder nicht erreichen, was in weiterer Folge dazu führt, dass viele Kinder unter dem soziokulturellen Existenzminimum leben. Doch nicht nur ungleiche Bildungsvoraussetzungen führen zu erheblichen Konsequenzen für die Heranwachsenden, auch sekundäre Ungleichheiten, wie unterschiedliche Laufbahnempfehlungen je nach sozialer Herkunft, resultieren in unterschiedlichen Bildungsniveaus und schulischer Leistungsförderung. 

Merten spricht sich daher insbesondere für ein integriertes Bildungssystem aus, das den Schüler*innen auch mehr Chancen ermöglichen würde. „Es stimmt nicht, dass man in homogenen Klassen bessere Leistungen erhält, als in heterogen zusammengesetzten Klassen”, so der Sozialpädagoge. Aus langfristiger Perspektive nehme die soziale Heterogenität sogar positiven Einfluss auf alle Schüler*innen. „Daher ist das Auflösen von organisatorischen Hürden ein ganz wichtiger Aspekt, um durch Armut benachteiligten Kindern in der Schule zu helfen.”

„Offensichtlich sind wir nicht bereit, allen Kindern die gleichen Chancen in dieser Gesellschaft zu geben.“

Prof. Dr. Roland Merten, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Doch nicht nur die Herstellung von Bildungs- und Chancengleichheit, sondern auch die Fördermaßnahmen nimmt Merten in den Blick: „Über den gesamten schulbiografischen Verlauf sollten unterschiedliche Fördermaßnahmen eingesetzt werden, damit die Kinder, die mit den meisten Benachteiligungen zur Schule kommen, auch ein größeres Volumen an Förderungen erhalten.” Denn vor allem Maßnahmen, die früh in der Lebensbiografie ansetzen, helfen, um ausreichende materielle Sicherung und Teilhabemöglichkeiten her- und sicherzustellen, so Merten.

Bildungsungerechtigkeit und mangelnde soziale Teilhabe aufgrund von Kinderarmut prägen nicht nur die Individuen oftmals für ihr ganzes Leben, sondern lassen auch Schlüsse auf unsere Gesellschaft als Ganzes zu. „Offensichtlich sind wir nicht bereit, allen Kindern die gleichen Chancen in dieser Gesellschaft zu geben“, so Merten.  Dieser von der Forschung eindeutig erstellte Befund ist gesellschafts- und bildungspolitisch alarmierend. Denn gleichzeitig macht er deutlich, dass wir als Gesellschaft nicht bereit sind, in die Bildung aller gleichberechtigt und solidarisch zu investieren. „Wir müssen das auch vor dem Hintergrund betrachten, dass Kinder die Zukunft einer Gesellschaft sind und wenn uns Kinder und ihre Chancen am Herzen liegen, sollten wir viel dafür tun, dass sie alle Chancen haben und nicht ausgeschlossen werden“, betont Tophoven. 

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