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„Wir wollen an einem komplexeren Verständnis von Gerechtigkeit arbeiten”

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Smeddinck

Im Verbundvorhaben TRANSENS leiten Sie die Forschung zu Dialogen und Prozessgestaltung in Wechselwirkung von Recht, Gerechtigkeit und Governance bei der Atomendlagersuche. Welche Erwartungen haben Sie für das Projekt und was sind die Forschungsziele?

Zentral ist aus unserer Sicht der Punkt, dass wir uns intensiv mit Gerechtigkeitsfragen auseinandersetzen. Gerechtigkeit – was einem da als erstes vor Augen steht, ist ja häufig das eigene Gerechtigkeitsempfinden als Normalfall. Wenn meine Interessen sich nicht durchgesetzt haben, dann kann es nur ungerecht sein. Wir wollen in TRANSENS dagegen an einem komplexeren Verständnis von Gerechtigkeit arbeiten. Dazu wollen wir Sichtweisen aus unterschiedlichen Disziplinen, die in dem Teilprojekt beteiligt sind, miteinander in Beziehung setzen – also etwa Ethik, Recht, Politikwissenschaft, Makroökonomie. Das wollen wir nicht bloß in der interdisziplinären Zusammenarbeit tun, sondern auch in der transdisziplinären Zusammenarbeit mit Bürger*innen, die wir in die Forschungszusammenhänge miteinbeziehen. Das Ziel ist es, Hinweise und Verbesserungsvorschläge zur Gestaltung des Standortauswahlverfahrens zu formulieren, die andere aufgreifen können.

Der Anspruch, dass es eine größtmögliche Gerechtigkeit gibt, ist, glaube ich, verfehlt. Es geht um Ausgleich und Anerkennung.“

Kann es Gerechtigkeit bei der Endlagersuche geben? Und wenn ja, wie müsste das Verfahren gestaltet werden, um die größtmögliche Gerechtigkeit zu gewährleisten?

Die Gemeinde und Region, die als Endlagerstandort ausgewählt wird, wird auf jeden Fall eine Last tragen, die alle anderen nicht tragen müssen. Das ist ungerecht, sollte aber auch Anerkennung finden. Der Staat wird dafür viel Geld ausgeben – zur Förderung der Gemeinde, der Region. Denkbar ist auch, dass es eine besondere Würdigung geben könnte, also dass die besondere Leistung dieser Gemeinde, dieser Region im gesellschaftlichen Diskurs oder bei Feierlichkeiten besonders hervorgehoben wird. Der Anspruch, dass es eine größtmögliche Gerechtigkeit gibt, ist, glaube ich, verfehlt. Es geht um Ausgleich und Anerkennung und das wird immer hinter den Erwartungen einzelner zurückbleiben müssen. 

Kann das im Standortauswahlgesetz festgelegte Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung dazu beitragen, dass der Suchprozess und die letztendliche Festlegung auf einen Standort gerecht ablaufen? 

Ich denke ja. Es gibt eben dieses neue Standortauswahlverfahren, was unter anderem wissenschaftsbasiert, transparent und partizipativ sein soll, um zu zeigen und nachvollziehbar zu machen, wie die Entscheidung zustande gekommen ist. Dass es eben keine politische Entscheidung ist, wie das der Entscheidung für Gorleben seinerzeit nachgesagt wurde, sondern dass unter den Augen und unter Beteiligung der Öffentlichkeit diese Entscheidung erarbeitet wird, indem eine Vielzahl von objektiven Kriterien akkurat angewendet wird. Außerdem ist im Standortauswahlgesetz vorgesehen, dass die Standortgemeinde und Standortregion, die es dann potenziell wird, frühzeitig an der Erarbeitung einer Potenzialanalyse und von Konzepten zur Förderung der Region beteiligt wird. Die Region soll trotz Endlager eine Entwicklungsperspektive haben.

Sie haben einen Sammelband mit interdisziplinären Beiträgen zum Thema Emotionen bei der Realisierung eines Endlagers herausgegeben. Welche Emotionen spielen bei der Realisierung eines Endlagers eine Rolle und was bedeutet das für die Endlagersuche?

Wut und Angst oder zumindest Furcht stehen im Vordergrund. Freude werden nur die spüren, an denen der Kelch, Standortgemeinde zu werden, vorbeigegangen ist. Wichtig ist, solche negativen Empfindungen nicht wegzureden. Früher hieß es: „Nun seid mal vernünftig. Wir sind die Fachleute. Wir haben alles geprüft. Vertraut uns.” Das hat die Menschen nicht beruhigen können. Hier kommt es darauf an, geschickter, nämlich angemessen, zu reagieren. Eine Emotion kann nicht durch Appelle an die Vernunft sondern nur durch andere Emotionen vertrieben und ersetzt werden, sagen Fachleute. Das könnten Emotionen sein, die auch über Geschichten transportiert werden und damit vielleicht für Verständnis und auch Vertrauen in die neue Standortsuche werben. 

„Vierzig oder fünfzig Jahre friedliche Nutzung der Kernenergie sind gemessen an der Dauer der Gefährlichkeit des Atommülls nicht mehr als ein Wimpernschlag.“

Die Menschheit wird sich noch für sehr lange Zeit mit dem Erbe des Atomzeitalters auseinandersetzen müssen. Liegt eine generationale Ungerechtigkeit vor?

Eindeutig ja. Vierzig oder fünfzig Jahre friedliche Nutzung der Kernenergie sind gemessen an der Dauer der Gefährlichkeit des Atommülls nicht mehr als ein Wimpernschlag. Nachfolgende Generationen haben keinen Nutzen mehr, müssen aber damit leben, dass der Atommüll dauerhaft gefährlich ist.

Was wird getan, um zukünftigen Generationen den Umgang mit unserem Atommüll zu erleichtern?

Da gibt es zwei Philosophien, die sich widersprechen. Die eine Option ist, den Atommüll möglichst schnell unter die Erde zu bringen und sicher zu verschließen. Die Philosophie dahinter ist, dass die Generation, die das Problem verursacht hat, es auch bewältigen soll, um nachfolgende Generationen zu entlasten. Die andere Option will die Möglichkeit der Rückholung des Atommülls aus dem Endlager für einen überschaubaren Zeitraum von einigen hundert Jahren offenhalten. Das Motiv ist hier, dass nachwachsende Generationen die Möglichkeit eines anderen Umgangs haben sollen, die Möglichkeit eine andere Entscheidung zu treffen, indem man auf den Atommüll noch zugreifen kann. 

Wie können Konflikte im Standortauswahlverfahren gelöst werden?

Ganz klassisch sind natürlich weiterhin Gerichtsentscheidungen vorgesehen. Allerdings legt das Standortauswahlgesetz einen starken Akzent auf die Öffentlichkeitsbeteiligung. Damit werden Lernprozesse, Konfliktlösungen und Regulierungen der letzten dreißig Jahre nachvollzogen. In Gerichtsprozessen geht es nur um Rechtsfehler: einer gewinnt, einer verliert. In umstrittenen gesellschaftlichen Fragen führt das häufig aber nicht zu einer Beruhigung und nicht zu Rechtsfrieden. Der neuere Ansatz – Mediation ist da ein prägnantes Beispiel – zielt darauf ab, bevor sich Konflikte verhärten, an einer Lösung zu arbeiten, möglichst auf Augenhöhe und unter Einbeziehung vieler, möglichst aller, die sich betroffen sehen, nach Lösungen zu suchen. Früher durfte bloß Einfluss nehmen, wer im eigenen Recht betroffen war. 

„Das Lagerdenken von Befürwortern und Gegnern, das sich über Jahrzehnte in Konflikten um die friedliche Nutzung der Atomenergie in Deutschland gebildet hat, prägt noch viele Menschen und ihre Wahrnehmung des neuartigen und fortschrittlichen Standortauswahlverfahrens.“

In einem Aufsatz haben Sie im Kontext von Konfliktlösung im Standortauswahlverfahren von „sanfter Regulierung” geschrieben. Was versteht man unter „sanfter Regulierung” und wie kann diese Ressource bei Konflikten im Standortauswahlverfahren helfen?

Konflikte sind sicherlich unvermeidlich und die bereits genannten Punkte gehören sicherlich auch zu einer sanften Regulierung. Aber nach meiner Überzeugung gibt es Konflikte und Ressourcen, die erst nach und nach in ihrer Bedeutung ins Blickfeld rücken und im Vollzug von Gesetzen bisher keine Rolle spielten. Auf zwei Punkte will ich hinweisen. Zum einen prägt das Lagerdenken von Befürwortern und Gegnern, das sich über Jahrzehnte in Konflikten um die friedliche Nutzung der Atomenergie in Deutschland gebildet hat, noch viele Menschen und ihre Wahrnehmung des neuartigen und fortschrittlichen Standortauswahlverfahrens. Sie können die neuen Möglichkeiten durch die alte Brille nicht richtig wahrnehmen. Das belastet das Verfahren. Zum anderen wird auch im Hinblick auf Emotionen versucht, mehr Einfluss auf die gesellschaftliche Kommunikation zu nehmen und zwar im Vorfeld, deutlich vorgelagert vor Entscheidungen oder offizieller Kommunikation, zum Beispiel im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung. Wenn das zuständige Bundesamt – das BASE – in der aktuellen Phase des Standortauswahlverfahrens mit dem Narrativ „Das letzte Kapitel schreiben wir gemeinsam” in die Öffentlichkeit geht, soll natürlich eine positive, kooperativere Stimmung erzeugt werden.

Zur Person

Prof. Dr. Ulrich Smeddinck ist Senior Researcher der Forschungsgruppe „Endlagerung als soziotechnisches Projekt” am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie. Außerdem leitet der Rechtswissenschaftler das transdisziplinäre Arbeitspaket DIPRO – „Dialoge und Prozessgestaltung in Wechselwirkung von Recht, Gerechtigkeit und Governance” im Verbundvorhaben TRANSENS – „Transdisziplinäre Forschung zur Entsorgung hochradioaktiver Abfälle in Deutschland”. 

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