Mensch oder Natur im Mittelpunkt des Naturschutzes?
Wenn der Mensch in modernen Gesellschaften ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur hat, würde es dann zu mehr Naturschutz führen, wenn er sich selbst als Teil der Natur begriffe? So ein Ansatz wird in der Umweltethik als Physiozentrismus diskutiert, der Natur einen Eigenwert unabhängig vom Mensch zuschreibt. Er soll einen Gegenentwurf zum Anthropozentrismus bilden, in dem Natur aus der Sicht des Menschen betrachtet wird und nur aus dieser einen Wert hat. Für Kirchhoff ist klar, dass sich aus einer physiozentrischen Sicht keine konkreten Ziele für Naturschutz ableiten lassen: „Dazu müsste aus der Natur selbst ein Zustand abgeleitet werden, der bestimmt, welche Natur schützenswert ist. Das ist aber nicht möglich, weil sich Natur permanent verändert und keinen Superorganismus darstellt, der am Leben erhalten werden müsste. Deshalb brauchen wir immer anthropozentrische Werte als Argumentationsgrundlage.“ Auch Niewöhner hält eine physiozentrische Sicht nicht in jeder Hinsicht für geeignet. Er warnt davor, dass eine solche Sichtweise dazu führen könnte, menschliches Leid zu relativieren – etwa in Folge von Naturkatastrophen: „Das kann sehr radikale Formen annehmen.“
Deshalb finden beide Wissenschaftler, dass der Schutz von Biodiversität immer vom Menschen aus gedacht werden muss – aus einer anthropozentrischen Sicht, die instrumentelle und nicht-instrumentelle Werte von Natur berücksichtigt.
Jörg Niewöhner möchte trotzdem wegkommen von der harten Trennung dieser beiden Sichtweisen. Er meint: „Es ist legitim zu sagen: ‚Wir sind Menschen und interessieren uns für Menschen‘ – aber die Selbsterhaltung kann nur durch die Erhaltung der Ökosysteme gelingen.“ Er fände es wichtig, genau diese Verflechtung zwischen Menschen und Ökosystemen in der Gesellschaft stärker zu diskutieren.
Von indigenen Völkern lernen
Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) nennt in seinem Bericht aus dem Juli diesen Jahres indigene Völker als Vorbilder für die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen. Deshalb will der IPBES zukünftig indigene Völker stärker einbeziehen, etwa wenn Richtlinien erarbeitet und Maßnahmen umgesetzt werden. Auch der Ethnologe Jörg Niewöhner sieht einen Mehrwert darin, sich mit dem Naturverständnis indigener Völker zu beschäftigen: „Schon alleine, um zu erkennen: Unser westliches Verständnis von Natur und Kultur ist nicht universell.“ So geht etwa der sogenannte Multinaturalismus (PDF) davon aus, dass jedes Wesen – egal ob Mensch, Tier oder Pflanze – eine ähnliche Seele hat und das nur der Körper in dem diese Seele steckt, die Perspektive auf die Welt bedingt. So kann etwa das, was für uns Blut ist, für einen Jaguar ein leckeres Getränk sein. Diese Sichtweise ist vor allem bei indigenen Völkern in Südamerika verbreitet. „Es ist für uns sehr schwer, sich da rein zu denken. Das zeigt, wie tief verankert das westliche Naturverständnis in unseren Köpfen ist“, so Niewöhner. Trotzdem warnt er vor einem romantisierenden Bild des Mensch-Natur-Verhältnisses indigener Völker. Diese seien sehr unterschiedlich, das Wissen oft ortsspezifisch und nicht ohne weiteres auf die westliche Welt übertragbar.