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Ganzheitliche Ansätze für weniger Armut

Steigende Mieten treffen vor allem Menschen mit geringem Einkommen.

„Berlin wird immer teurer!”, „Oh du ziehst nach München, viel Glück bei der Wohnungssuche” oder „Puh, wir suchen seit über einem Jahr nach etwas Passendem und finden nichts” – Sätze wie diese hat wohl jeder schon einmal gehört, wenn er in deutschen Städten momentan über das Thema Wohnen spricht. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist in deutschen Städten auch aufgrund politischer und wissenschaftlicher Fehleinschätzungen angespannt. Und Besserung ist zumindest kurzfristig nicht in Sicht.

„Die Situation betrifft natürlich jeden, der kein Eigentum besitzt und für den 500 Euro mehr oder weniger im Monat einen Unterschied machen”, sagt Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. „Besonders hart trifft es aber Menschen, die ohnehin wenig verdienen. In einer Zeit, in der Vermieter es sich aussuchen können, an wen sie vermieten, haben insbesondere Migrantinnen, Geringverdiener oder Hartz-IV-Empfänger oft das Nachsehen.” Die Situation habe sich, so Gerull, in den letzten Jahren immer weiter verschärft, und selbst soziale Trägereinrichtungen, die sich um Bedürftige oder Wohnungslose kümmern, hätten inzwischen Probleme, überhaupt Wohnraum zu finden, den sie weitervermieten können.

Das Resultat: Menschen mit niedrigem Einkommen werden zunehmend aus den Innenstädten verdrängt oder können sich ihren Unterhalt kaum mehr leisten. Die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft werden nach Einschätzung der Experten dadurch noch größer, und immer mehr Menschen geraten in noch stärkere finanzielle Notlagen. Doch nicht nur Geringverdiener sind von der Lage in besonderem Maße betroffen, auch für viele ältere Menschen wird die Lage immer bedenklicher.

„Wohnungen sind keine normale Ware und sollten in einem Sozialstaat daher auch nicht so behandelt werden.”

Prof. Dr. Susanne Gerull, Alice Salomon Hochschule Berlin

„Die geburtenstarken Jahrgänge treten jetzt ins Rentenalter ein. Von diesen Menschen waren viele einige Zeit arbeitslos. Hier kommt es vielfach zum Rentenschock”, sagt Matthias Günther, Ökonom und Vorsitzender des Pestel Instituts in Hannover. „Das Einkommen halbiert sich, die Miete bleibt gleich oder steigt sogar und schon wird es finanziell brenzlig”. Heute Normalverdiener, im Alter arm durch Miete: Ein Schreckensszenario, das droht, wenn sich nicht bald etwas an der Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt ändert.

Sowohl Günther als auch Gerull sind skeptisch, dass der Markt die aktuelle Problematik  von alleine regeln wird – eine These, die einige Ökonomen und Politiker durchaus vertreten. „Wohnungen sind keine normale Ware und sollten in einem Sozialstaat daher auch nicht so behandelt werden”, sagt Gerull. „Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnraum und deshalb muss der Staat dafür sorgen, dass Bürger menschenwürdig wohnen und leben könnten. Aber genau das regelt der Markt nicht.”  

Die eine richtige Lösungsstrategie für das Problem scheint es aufgrund der Vielschichtigkeit nicht zu geben. „Jetzt plötzlich ganz viele Wohnungen zu bauen, ist zwar ein guter Start, aber wirklich etwas davon haben werden wir erst in fünf Jahren. Und selbst dann stellen sich die Einkommensschwachen ganz hinten an”, sagt Gerull. Stattdessen müsse an verschiedenen Stellen angesetzt werden. „Die Wohnungsbaugesellschaften zu verkaufen, war ein riesiger Fehler. Wir müssen diese Wohnungen zurück in den kommunalen Bestand holen und versuchen, sie wieder im Sinne eines Sozialstaats zu nutzen”, sagt sie. Erste Modelle, wie dies gelingen könnte, gibt es bereits. Die Stadt Karlsruhe beispielsweise versucht günstigen Wohnraum zu sichern, indem sie Belegungsrechte kauft. Das Prinzip dahinter ist einfach: Die Stadt saniert Wohnungen und erhält dafür das Recht, für zehn Jahre zu entscheiden, wer sie mieten darf. Ein erster Schritt in Richtung sozial gerechter Verteilung.

„Unsere Empfehlung lautet, Kreditprogramme mit geringen Zinsen aufzusetzen und so gezielt den Erwerb von Wohnungen, auch in höherem Alter, zu fördern.”

Matthias Günther, Ökonom und Vorsitzender des Pestel Instituts

Ein weiterer Lösungsansatz könnte die staatliche Unterstützung des Erwerbs von Eigentum sein – gerade für ältere Menschen. „Eigentum ist ein wesentlicher Baustein der Altersvorsorge. Denn eine eigene Immobilie lässt sich im Alter einfach abwohnen. Der Zustand der Wohnung nach dem eigenen Tod dürfte dem ‚relativ armen‘ Eigentümer egal sein”, sagt Matthias Günther.

Eine aktuelle, von Günther durchgeführte Studie zeigt allerdings, dass die Wohneigentumsquote in Deutschland zu den niedrigsten in Europa gehört und seit einigen Jahren stagniert bzw. in der klassischen Altersgruppe der Ersterwerber, den 25- bis 40-Jährigen, sogar sinkt. Mithilfe von Modellrechnungen konnten Günther und seine Kollegen zudem zeigen, dass man, wenn man gezielt gute Kreditbedingungen für den Erwerb begrenzter Wohnflächen schafft, einen großen Teil der Zielgruppe erreichen würde, während das von der Regierung geplante Baukindergeld „einen Teil der Bevölkerung [ausschließt]”. „Unsere Empfehlung lautet deshalb, Kreditprogramme mit geringen Zinsen aufzusetzen und so gezielt den Erwerb von Wohnungen, auch in höherem Alter, zu fördern”, sagt Günther. „Ob sie Anklang findet, weiß ich nicht.”

„Wir müssen die Problematik auf dem Wohnungsmarkt jetzt nicht nur in den Griff bekommen, sondern langfristig dafür sorgen, dass wir nicht gleich wieder in die nächste Krise des Wohnungsmarktes schlittern.”

Prof. Dr. Susanne Gerull, Alice Salomon Hochschule Berlin

Weiteres Potenzial für positive Veränderungen sieht er in einem Bereich, der in der aktuellen Debatte um den Wohnungsmarkt in Deutschland fast gar nicht vorkommt: Das autonome Fahren. „Daimler und VW haben angekündigt, bis 2025 vollautonom fahrende Sammelflotten an den Start zu bringen. Aus meiner Sicht hat diese Entwicklung das Potenzial, ein vollkommen neues Stadt-Umland-Verhältnis zu schaffen und somit die Städte zu entlasten”, sagt Günther. Verkehrs- und Stadtentwicklungskonzepte, die diese Option mitdenken, gibt es derzeit jedoch noch nicht.

Ein Versäumnis, dass seiner Meinung nach – wie viele Probleme rund um die aktuelle Lage auf dem Wohnungsmarkt – wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass in der Politik allgemein zu wenig langfristig und ganzheitlich gedacht wird. „Man steuert jetzt dagegen. Das darf aber nicht das Ende der Fahnenstange sein. Wir müssen die Problematik auf dem Wohnungsmarkt jetzt nicht nur in den Griff bekommen, sondern langfristig dafür sorgen, dass wir nicht gleich wieder in die nächste Krise des Wohnungsmarktes schlittern”, sagt Susanne Gerull.

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